Erinnern heißt verändern

Werden jüdische Stimmen nicht gehört, werden sie laut

In der Nacht vom 8. auf den 9. November, anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome 1938, überklebten jüdische Aktivist:innen 23 von der Stadt Wien als „Straßennamen mit intensivem Diskussionsbedarf“ eingestufte Straßenschilder und ersetzten diese durch Aufkleber mit Namen jüdischer und nicht-jüdischer Widerstandskämpfer:innen. Dadurch machten sie nicht zuletzt auf die teilweise stark realitätsverleugnende Erinnerungskultur in Österreich aufmerksam.

Im Jahr 2013 hat eine Historiker:innenkommission, im Zuge einer kritischen Untersuchung 4.300 personenbezogener Wiener Straßennamen, 170 solcher Namen als problematisch eingestuft, wovon 28 offensiv und nachhaltig antisemitisches Gedankengut vertraten. Doch statt sich ernsthaft mit Erinnerungskultur oder Vergangenheitsbewältigung auseinanderzusetzen, beschloss die Stadt Wien, lediglich an einer einzigen Stelle in den jeweiligen Straßen eine kleine „Kontextualisierungstafel“ mit zusätzlichen Informationen zu den Personen anzubringen, welche bestenfalls gut gemeint, schlimmstenfalls ignorant und relativierend sind. So liest man zum Beispiel in der Dr.-Boehringer-Gasse zunächst 161 Zeichen über dessen Erfolge in der Pharmakologie, eine herausragende Kontextualisierung zu einer Person, die SA-Obersturmführer war. Naja, die Mitgliedschaften in der SA und NSDAP werden dann doch in einem kurzen Satz abgehandelt, mit einer abschließenden Feststellung seiner späteren Distanzierung zum NS-Regime. Puh, man kann also doch noch stolz auf unseren Herrn Obersturmführer Boehringer sein (in dessen Unternehmen Verstöße gegen die Arbeitsordnung der Gestapo gemeldet wurden). 

Entsprechend der menschlichen Tendenz, rational sein zu wollen, wird letztendlich nur rationalisiert, um das eigene Selbstbild zu wahren. So findet hier durchaus eine Kontextualisierung statt, aber eine solche, die in das österreichische Narrativ hineinpasst, wodurch sie rein illusorisch bleibt. 

Symptom einer realitätsverleugnenden Erinnerungskultur  

Es wird bemerkbar, dass die Erinnerungskultur in Österreich maßgeblich durch den Mythos der Opferthese geprägt ist, also der Ansicht, Österreich sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Man kann und konnte sich dadurch von der Mittäterschaft und folglich von jeglicher Verantwortung und Verpflichtung zur Wiedergutmachung für die tatsächlichen Opfern des Nationalsozialismus lossagen. Somit gab es auch gegenüber dem eigenen Nationalstolz keinerlei Ambivalenz, kein Hinterfragen, was vor dem Hintergrund einer gescheiterten Entnazifizierung sicherlich auch den Nährboden für einen stark ausgeprägten parlamentarischen Rechtsextremismus bot – die FPÖ, die von der konservativen ÖVP erschreckenderweise wiederholt als Koalitionspartner akzeptiert wurde.  

Die Straßennamen sind dabei nur ein Symptom dieses Opfer-Narratives, welches weiterführend zu einer realitätsverleugnenden Erinnerungskultur geführt hat. Wie sonst lässt sich erklären, dass es Österreich erst 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zustande bringt, ein nationales Holocaust-Denkmal zu errichten? Zweifelsfrei ist es ein richtiger und sehr wichtiger Schritt, trotzdem wird offensichtlich, wie tief die Versäumnisse der österreichischen Vergangenheitsbewältigung greifen. 

Symbolkraft und Sichtbarmachung

Die Absurdität der Benennung von Straßen, Plätzen, Gassen und Wegen mit Namen antisemitischer Personen wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Menschen, die im Kampf gegen das NS-Regime alles riskierten, im Stadtbild repräsentiert sind. Bis ins Jahr 2012 waren nur vier Wiener Straßennamen nach einer oder einem der 112 österreichischen Gerechten unter den Völkern benannt. Wenn 28 Straßen (mittlerweile 23), die nach Antisemit:innen benannt wurden, lediglich vier (mittlerweile zwölf) Straßennamen zur Ehrung der Rettung von Juden und Jüdinnen gegenüberstehen, wird sehr deutlich, wo die Prioritäten nicht liegen. Wenn dies bereits auf nicht-jüdische Widerstandskämpfer:innen zutrifft, lässt sich ausmalen, wie dünn die Repräsentation von Juden und Jüdinnen ist, die selbst dem Nationalsozialismus die Stirn boten. Gibt es diese Repräsentation überhaupt?

Dabei müsste es nicht so sein. Welch enormen Effekt und welch enorme Symbolkraft hätte es, einen Ort wie den Karl Lueger-Platz beispielsweise nach Hannah Szenes zu benennen? Gebührt dieser jungen, jüdischen Heldin, welche sich freiwillig zum Dienst in der britischen Armee meldete und selbst nach ihrer Festnahme und monatelanger Folter keine Geheiminformationen preisgab, etwa keine Würdigung? Hierbei geht es mitnichten um Cancel Culture. Die Vorstellung, eine historische Figur aus jeglichen Geschichtsbüchern löschen zu können, ist ohnehin eine unrealistische. Nein, es geht darum, sichtbar zu machen, welche Werte für uns als Gesellschaft essentiell und welche unvereinbar sind, welche Vorbilder wir als ehrwürdig betrachten und welche Personen in Vergessenheit geraten sollten. Es sind eben nicht nur Straßenbenennungen, sondern Würdigungen und Legitimationen der dahinterstehenden Personen und Ideologien.  

Es stellt sich also zunehmend und immer lauter die Frage, wie es sein kann, dass diese Namen bis heute das Wiener Stadtbild zeichnen und nicht durch andere ersetzt wurden.

Werden wir nicht gehört, werden wir laut 

Als Antwort auf diese Frage entschieden sich jüdische Aktivist:innen kurzerhand, die Straßen umzubenennen. Bewaffnet mit nicht mehr als ein paar Pickerln und einer guten alten Leiter, zogen sie durch das nächtliche Wien, um diesen schändlichen Straßenbenennungen ein neues Antlitz zu verleihen. Damit leisten sie nicht nur einen großen Beitrag zu einer längst nicht abgeschlossenen Debatte über die Gestaltung der Stadt, sondern emanzipieren sich auch von einer oftmals von außen aufgedrängten, leider allzu oft internalisierten Opferrolle. Ihre Message ist eindeutig: Wir sind hier, wir sind nicht einverstanden und werden wir nicht gehört, werden wir laut.

Alon Ishay