Überall Schwurblers

Die Entscheidung, als Jüdin öffentlichen Aktivismus zu betreiben, ist mit Belastung, Hass und Gewalt verbunden. Die JöH ist eine offen Jüdische Organisation, unsere Mitglieder werden mit den abstrusesten Ressentiments konfrontiert. Gewisse Undinge akzeptieren wir nicht und stehen dagegen auf – so wie es Aktivist:innen nun einmal tun. Jedoch kommt bei uns hinzu, dass dieser Kampf zusätzlich immer auch auf einer persönlichen Ebene stattfindet – und das vergessen viele.

Wir kennen alle die Bilder, die uns von den Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen gezeigt werden: Bilder von “Corona-Skeptiker:innen” und Verschwörungstheoretiker:innen,  die mit Neonazis und verurteilten Holocaustleugner:innen die Straßen stürmen und sich mit Jüdinnen und Juden unter dem NS-Regime vergleichen. Der österreichischen Gesellschaft ist das mittlerweile kein Dorn mehr im Auge – klar, wenn man jeden zweiten Sonntag Mitleid heischende, Shoah relativierende Menschen in der Stadt herumlaufen sieht, gewöhnt man sich an diesen Anblick. Der Dorn in unseren Augen ist aber noch da. Das mag daran liegen, dass wir die Judensterne und das ganze damit zusammenhängende Trauma von unseren Großeltern kennen. Wir können uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen sich mit unseren Familienmitgliedern oder Sophie Scholl vergleichen, weil von ihnen verlangt wird, sich in einer Pandemie solidarisch zu verhalten. Wir können uns auch nicht daran gewöhnen, dass gewaltbereite Nazi-Hooligans Jagd auf Aktivist:innen machen. Und die übliche Reaktion aus dem Innenministerium stellt die ohnehin erschreckende Situation zusätzlich in ein groteskes Licht: Wir Jüdinnen und Juden sollten zu unserer eigenen Sicherheit zu Hause zu bleiben!

Antisemitische Schwurblers, schwurbelnde Behörden

In diesem grotesken Licht befanden wir uns auch bei unserer Demonstration gegen die antisemische „Israeli Apartheid-Week“ der antisemitischen Gruppe “Boycott Divestment Sanctions (BDS) Austria” im März 2021, bei der uns von Seiten der Mitglieder gesagt wurde: „Die Nazis haben nur die Anti-Zionisten vergast, die Zionisten haben mit den Nazis zusammengearbeitet!“. Am selben Tag wüteten die “Corona-Demos” auf den Straßen, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) sowie das Innenministerium warnten die Mitglieder unserer Gemeinde davor, auf die Straßen zu gehen. Wir wollten trotzdem protestieren, doch wurden wir innerhalb von Minuten von ca. 200 Polizist:innen eingekesselt und angezeigt. Gewiss zu unserer Sicherheit.

Ein ähnliches Szenario ereignete sich im Jahr 2019, als Benjamin Hess, damals Co-Präsident der JöH, für das Hochhalten einer Israelfahne als Protest gegen eine BDS-Kundgebung eine Anzeige bekam. Nach einem zweijährigen Prozess und mit sehr viel Hartnäckigkeit gelang es ihm, dass die Anzeige fallengelassen wurde, indem er auf dem eigentlich Selbstverständlichen beharrte, nämlich darauf, dass es in Anbetracht der österreichischen Vergangenheit höchstes Gebot sei, gegen Antisemitismus aufzustehen. 

Wir müssen uns also nicht nur konstant mit diversen Formen des Antisemitismus herumschlagen, sondern auch mit Behörden, die diesen Antisemitismus nicht ernst nehmen, ihn sogar zulassen und uns das Leben schwer machen, wenn wir dagegen aufstehen.

“Wir schützen alle gleich, egal, ob Juden oder Österreicher”

Immer wenn die Situation im Nahen Osten eskaliert, steigt der Antisemitismus in Europa massiv an. Das bedeutet für uns vor allem eines: Wir sind einer unglaublichen Welle an Hass und Gewalt ausgesetzt und müssen uns auch noch rechtfertigen.

Im Mai 2021 befanden wir uns plötzlich umgeben von antisemitischen Demonstrationen, auf denen zum Tod des Jüdischen Volkes und zur Zerstörung des Jüdischen Staates Israel aufgerufen wurde. Gleichzeitig wurden wir als europäische Jüdinnen und Juden dazu genötigt, den Antisemitismus, den sie erlebten, nachzuweisen, sei es im Freundeskreis, auf der Universität oder auf Sozialen Medien. Und das, obwohl in Städten wie Bonn und Münster Synagogen attackiert wurden, in Großbritannien antisemitische Vorfälle um 300 Prozent anstiegen und in Wien mehrere tausend Menschen, unter anderem aus der islamistischen Szene, gemeinsam mit den rechtsextremen Grauen Wölfen und der antisemitischen Gruppe BDS-Austria gegen Jüdinnen und Juden gehetzt haben. Auch auf diesen Demos gab es Davidsterne zu sehen, gefolgt von Ist-gleich-Zeichen und Hakenkreuzen. 

Als wir unsere Gegenkundgebung unter dem Titel „Gegen jeden Antisemitismus“ anmeldeten, betrachteten die Polizeibeamten unsere Forderung nach stärkeren Sicherheitsmaßnahmen als etwas weit hergeholt: „Hören sie mal, wir sind hier nicht in Israel, hier ist das anders mit dem Terror. Außerdem schützen wir bei Kundgebungen alle gleich, egal, ob Juden oder Österreicher“. 

Leibwachen für Nazis?

Ganz anders die Haltung der Polizei, wenn sie einen Schutzauftrag für Rechtsextreme Identitäre und Neonazis erhält. Hier steht höchste Alarmstufe und voller Einsatz an der Tagesordnung.

Sei es die identitäre Versammlung beim Karl Lueger-Denkmal, um den Bronzekoloss und sein antisemitisches Weltbild zu verteidigen oder die Identitären-Kundgebung am 8. Mai beim Brunnenmarkt, bei der die Neofaschisten das Ende des Zweiten Weltkriegs als Trauertag deklarierten – dort, wo extreme Rechte sich versammeln, gibt es überwältigende Sicherheitsvorkehrungen.

Um jeden Preis geschützt werden auch die christlichen Fundamentalist:innen, die jährlich beim „Marsch fürs Leben“ gegen Abtreibung und damit für die Kontrolle und Macht über Frauen demonstrieren. Wer diese Kundgebung stört, um auf die Gefahren dieses sexistischen, frauenfeindlichen Weltbilds und seiner massenhaften Äußerung auf den Straßen der Hauptstadt aufmerksam zu machen, darf ebenso mit Strafen rechnen. 

Große Männer mit NS-Vergangenheit

Kaum gesehen wird auch die Problematik, dass noch immer unzählige Denkmäler, Erinnerungszeichen und Straßennamen nach Nationalsozialist:innen und Antisemit:innen benannt sind.  Es wird dort aktiv weggeschaut, wo Österreich seine nationalsozialistische, antisemitische Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet hat und wenn doch hingeschaut wird, gibt es plötzlich kleine Zusatztafeln nach folgendem Schema: “Er war ein großer Mann und seine Errungenschaften waren ebenso groß. Leider war er auch NSDAP-Mitglied oder Antisemit, aber das waren ja alle in dieser Zeit”. Und genau so steht auch Dr. Karl Lueger, der Erfinder des politischen Antisemitismus, noch immer als monströse Statue in der Wiener Innenstadt.

In der Nacht auf den 9. November 2021 überklebten Jüdische Aktivist:innen 23 nach Nazis benannte Straßenschilder (darunter auch den Dr.-Karl-Lueger-Platz) mit den Namen von Widerstandskämpfer:innen. (siehe Artikel, S. 26)

Junge Jüdinnen und Juden haben damit selbst die Initiative ergriffen, so wie wir es viel zu oft tun müssen. Wir kennen das Phänomen nur allzu gut, nicht gehört zu werden und nur dann nach unserer Meinung gefragt zu werden, wenn entweder etwas Schreckliches geschehen ist oder es gerade gut ins politische Programm passt.

Erinnern, als gäbe es kein Morgen

Unter Schwarz-Blau wurde die Namensmauer, das erste Holocaust-Denkmal der Republik Österreich, initiiert. Es sollte das erste offizielle Zeichen des Gedenkens seitens des Staates sein und zudem ein türkis-blaues Prestigeprojekt. Dieses Prestigeprojekt hätte ursprünglich zur Hälfte von einer Überlebenden-Initiative bezahlt werden sollen, umgesetzt wurde es letztlich ohne vorangehende Ausschreibung, von einer Baufirma mit NS-Vergangenheit. Zur Enthüllung des Denkmals am 9. November wurden wir eingeladen, um vor Ort festzustellen, dass unsere Rolle die sein sollte, eine von 36 Plastikkerzen einzuschalten. Nachdem wir über eine Stunde, geschmückt mit türkisen BKA-Halsbändern, in der Kälte gewartet haben, sind wir aus Protest gegangen. 

Der 9. November wird in Österreich sehr großgeschrieben, an diesem Tag wird obligatorisch erinnert, als gäbe es kein Morgen. (siehe Kommentar, S. 22) Und das ist der springende Punkt: Antisemitismus hört nämlich am 10. November nicht auf, jedenfalls nicht für uns, nur für die österreichische Politik. Wir müssen an allen Tagen gegen die antisemitischen Strukturen dieses Landes und dieser Gesellschaft kämpfen.

Wir müssen an allen Tagen im Jahr damit leben, dass dutzende Straßen in Wien nach Nationalsozialisten und Antisemit:innen benannt sind. Und die textliche Kontextualisierung eines Straßennamens, die lediglich darauf hinweist, wer diese Person war, die hier geehrt wird, ist ein Akt der Akzeptanz und der Hinnahme. Es ist das Hindeuten auf ein Problem, ohne es beheben zu wollen. Es ist eine Entscheidung, die weh tut.

Keine Angst!

Weh tut auch die Realität, dass es gefährlich wird, sobald wir als Jüdinnen und Juden entscheiden, gegen die antisemitische Gefahr aktiv zu werden.

Erst kürzlich wurden Lara Guttmann, ehemalige Präsidentin der JöH und Bini Guttmann, ehemaliger Präsident der European Union of Jewish Students (EUJS), in rechtsextremen Foren als “Namen, die man sich wird merken müssen” genannt und sind damit eine direkte Zielscheibe der gewaltbereiten neonazistischen Szene.

Trotzdem, eines ist klar: Wir lassen Antisemitismus nicht unbeantwortet, egal, ob er von rechtsextremer, islamistischer oder verschwörungsideologischer Seite kommt. Egal, ob auf der Straße, an der Universität oder online.

Wir haben keine Angst.
Wir lassen uns nicht einschüchtern.
Wir werden weitermachen. 

Sashi Turkof