Die Gedenksaison ist eröffnet

„Nie wieder“ – hohle Phrase oder oberstes Prinzip des freien Westens?

80 Jahre nach dem Beschluss zur Endlösung in Berlin eröffnet in Wien das erste offizielle Holocaust-Denkmal der Republik Österreich. Andere Länder kennen solche Gedenkmauern schon um einiges länger, warum es wohl hier zu Lande so lange gedauert hat, kann jede:r sich selber denken. Das Bild des Opfers bestimmt die politische Kultur der Verantwortungslosigkeit bis heute, man frage nur mal einen der Ex-Bundeskanzler, ob sie denn für irgendeine ihrer Handlungen auch verantwortlich sind. Österreicher waren überproportional in der SS und der NSDAP vertreten, der Eichmann-Stab bestand in wesentlichen Teilen aus Österreichern, so stand es um die Verantwortung.

In Deutschland ist der Herbst gleich doppelte Gedenksaison, es wird nicht nur der Vernichtung des halben Kontinents gedacht, sondern natürlich auch der Wiedervereinigung der Mordenden und ihrer Nachkommen in den 1990er Jahren. In linken Kreisen hat sich damals eine äußerst lästige Spaltung breit gemacht, die sogenannten Antideutschen Kommunisten protestierten vehement gegen diese Wiedervereinigung. Der Grund dafür war die deutsche Übermacht, die sich damit wieder in Europa ausbreiten konnte. Das Argument lautete, was Hitler nicht mit Waffengewalt zu erreichen vermag, schafft die deutsche Wirtschaft über den Handel. Fragen wir doch mal bei den Griechen nach, was die von dieser Prognose aus den 1990ern heute halten? In diesem Kontext wird gerne bemüht, wie sehr doch die DDR als Unrechtsstaat das Erbe des NS angetreten hätte und der finale Beweis dafür sind die 300 bis 1000 Toten an der innerdeutschen Grenze zwischen 1961 und 1989. Diese Toten bedeuten für die deutsche Identität und ihre angegebenen Opfer in etwa das, wofür bei uns noch die Wehrmachtssoldaten herhalten müssen, dabei wurde der Mythos der sauberen Wehrmacht eigentlich schon spätestens  zur Jahrtausendwende durch die berühmte Wehrmachtsausstellung widerlegt. Aber gut, wer will sich bitte schon so lange zurückerinnern?

Plastikkerzen für tote Juden

Erinnern ist ja das Thema solcher Denkmäler und der ganzen Gedenksaison, die wir Jahr für Jahr aufs neue begehen. Vor kurzem wurde die Shoah-Namensmauer, das erste Holocaust-Mahnmal der Republik, errichtet. Der österreichische Staat hat großzügigerweise zur Eröffnung dieses etwas verspäteten Bewältigungsversuchs den Nachkommen der Opfer, der JÖH, erlaubt, das ganze historische Versagen der Republik durch ihre Anwesenheit zu kaschern und den österreichischen Politikern und Politikerinnen eine Lernfähigkeit zu attestieren. Die JÖH durfte ganze fünf, in Zahlen 5 (!), feierliche Kerzenanzünder zu der türkisen Eröffnungszeremonie schicken. So wendet sich das Blatt, früher hat man Juden nicht zum Kerzen anzünden geschickt, sondern einfach gleich zu Kerzen gemacht. Damit haben wir wohl den endgültigen Beweis dafür, dass sich auch österreichische Politiker und Politikerinnen das „Nie wieder“, wie es immer zur Gedenksaison durch die Gassen, Friedhöfer und Deportationszentren schallt, zu Herzen genommen haben, denn immerhin, 80 Jahre später, nachdem kein Wehrmachtsopa mehr lebt, der sich daran stören könnte, ist man dazu bereit, über die toten Juden das Schweigen zu brechen.

Gegen das Gedenken darf man ja nicht wirklich etwas sagen, sonst ist man gleich ein zynischer Polemiker. Doch in solchen Situationen braucht es Polemiker, denn allen anderen fehlt der Zynismus, um die Absurdität der Realität anzuerkennen, anstatt sich im faktenresistenten Optimismus zu suhlen.  

Gegen Gedenken gäbe es nur dann nichts einzuwenden, wenn sich nicht die Brandstifter die Gedenkkultur einverleiben würden, um im moralischen Gewand ihre Brände zu legen. Die jetzige Regierung wurde bis vor kurzem von einer Person geführt, deren größte Errungenschaft nach eigenen Angaben die Schließung der Balkanroute für flüchtende Menschen ist. Von einer Person, die sich einen ehemaligen Neonazi als Vizekanzler gewählt hat – das genannte Denkmal der Republik war übrigens ein Prestige-Projekt ihrer konservativ-rechtsextremen Koalition und die JöH hätte einen zusätzlichen Koscherstempel geben dürfen, hätte sie die Teilnahme nicht verweigert.

Jeden Tag wieder

„Nie wieder“ ist das Leitmotiv der  vergangenen Novemberwochen, doch während dieses „Nie wieder“ von allen  Heuchlern und Heuchlerinnen in Regierungsverantwortung wie eine Reliquie herumgereicht und bestaunt wird, hat keine einzige dieser Witzfiguren auch nur annähernd verstanden, was das für ihre Politik speziell zu bedeuten hat, denn “Nie Wieder” bedeutet Juden und Jüdinnen etwas völlig anderes, nämlich Zionismus. Das jüdische Nie Wieder möchte eben nie wieder schutzlos und vom guten Willen anderer abhängig sein. Solidarität von außerhalb mag nett gemeint sein, ist aber eigentlich völlig irrelevant, weil es eben darum geht, dass Juden in der Lage sind, sich um sich selbst zu kümmern.

Die Deutschen sehen mittlerweile in ein paar hundert Mauertoten das größte Verbrechen gegen die Menschheit, um zu vergessen, was ihre Vorfahren von 1933 bis 1945 getrieben haben, während die Österreicher überhaupt erst warm werden mit dem Gedanken, eine Mitverantwortung zu tragen. Und wir alle sehen dabei zu, wie das „Nie wieder“ täglich von Europa zu Grabe getragen wird, wahlweise im Mittelmeer durch ertrinken, in der Sahara durch verdursten oder gleich direkt durch libysche oder jetzt auch wieder polnische Schlägertruppen. 

Nach den Schrecken der Nazis hatte sich die Weltgemeinschaft eigentlich darauf geeinigt, „nie wieder“ zuzulassen, dass sich Auschwitz wiederholt. 80 Jahre später können wir festhalten, dass dieser Anspruch kläglich gescheitert ist. Nicht nur fand seitdem eine Vielzahl an Genoziden statt, aus denen oft genug dieselben Profiteure wie damals Profit schlagen konnten, man denke nur an die vielen deutschen und österreichischen Waffen, die sich immer wieder in den gefährlichsten Händen wiederfinden. Die selbsternannten “Freunde der Juden und Israels” sehen einfach nur dabei zu, wie sich ein antisemitisches und Holocaust-verherrlichendes Regime im Iran, was ja bekanntlich wortwörtlich “Land der Arier” heißt, atomar bewaffnet, oder schlimmer: Sie sind munter dabei, mit eben diesem Geschäfte zu machen. 

Doch die größte Heuchelei ist die bereits erwähnte Migrationspolitik Europas. Täglich sterben Menschen an den Grenzen. Was heißt hier eigentlich sterben? Täglich werden Menschen an den Grenzen ermordet. Die Juden wurden in Auschwitz durch Deutsche (und ihre europäischen Helfer) in Gaskammern ermordet. Das lässt sich mit nichts vergleichen. Was sich aber vergleichen lässt, ist das Wegschauen jener, die helfen könnten. Während der Shoah haben die restlichen Länder ihre Grenzen zugemacht und weggeschaut. Heute ertrinken die Menschen im Mittelmeer, oder verdursten in der Sahara; wenn sie Pech haben, werden sie von den libyschen Sklavenhändlern irgendwo auf diesem Weg eingesammelt. Falls Sie sich fragen, wo es denn noch Sklavenhändler gibt, Sie kennen diese vielleicht unter dem Namen “Grenzschutz-Partner” oder “Küstenwache” im Zusammenhang mit europäischen Subventionen, die an eben diese ausbezahlt werden. 

“Nie wieder” muss aus einer universellen Perspektive bedeuten, nie wieder zuzulassen, dass Profitgier, Feigheit, Dummheit oder einfacher Hass dazu führen, dass Menschen von Menschen systematisch getötet werden – einfach weil sie existieren, aber nicht die richtigen Papiere, Hautfarbe oder Religion haben, einfach weil sie am falschen Ort zur falschen Zeit geboren wurden. Ein “Nie wieder” aus dem Mund der europäischen Regierungen ist daher nicht mehr als eine hohle Phrase, solange unser Grenzregime weiterhin  für unzählige Menschen den grausamen Tod bedeutet. Es ist dieses Grenzregime, das moderne Sklaverei ermöglicht und sich gleichzeitig als Hort der Menschlichkeit präsentiert, indem es der Toten der Vergangenheit gedenkt, während die Toten der Gegenwart zu verhindern wären.

Elias Frederik Weiss