Ich bin Bucharin?

Von der Schublade auf den Tisch – zwischen Eigen- und Fremdzuschreibung

Bucharisch sein ist für mich viel mehr, als geschichtliche und kulturelle Zugehörigkeit. Abgesehen von meinem Stolz nagt auch ein Gefühl des Zweifels an der eigenen Identität an mir und die Sorge, nicht genug zu sein. Woran liegt das? Vorurteile? Schubladen-Denken? Sozialisationsunterschiede? Eigene Erwartungen und Wünsche?

Als Kleinkind habe ich nicht zwischen verschiedenen Religionen differenziert. Schon gar nicht bin ich auf den Gedanken gekommen, mich innerhalb meiner eigenen Religion einer Untergruppierung zugehörig zu fühlen. 

Als Mädchen in einer bucharischen Familie aufgewachsen, habe ich mehr von der russischen als von der bucharischen Kultur mitbekommen. Als fünfjähriges Kind waren mir Nikolai Baskow, Philipp Kirkorow, Alla Pugatschova, und viele weitere keine fremden Namen. Ich konnte bei allen Liedern dieser russischen Volksmusiker:innen leidenschaftlich mitsingen. Ich hatte das Privileg, mit Russisch als Muttersprache zweisprachig aufzuwachsen. 

Bucharisch, ein Dialekt der persischen Sprache, war meinen Eltern und Großeltern als Geheimsprache vorenthalten. Dementsprechend waren die einzigen Worte, die ich verstanden habe „Peshi batscho gav nasan!“ (Übersetzung: „Sag es nicht vor den Kindern!“).

Im Kindergarten kam ich erstmals mit der deutschen Sprache in Berührung. Das Phänomen des erleichterten Spracherwerbs bei Kindern hat dazu geführt, dass ich schon bald besser Deutsch als Russisch gesprochen habe. Sowohl mein Kindergarten als auch meine Volks- und später höher bildende Schule waren österreichisch. Dafür bin ich bis heute dankbar. Denn es war essentiell für meine Sozialisation, so unterschiedlichen primären und sekundären Sozialisationsinstanzen zu begegnen und somit ein größeres Pool an Einflüssen für meine Selbstreflexion zu gewinnen.

Sozialisation

Die Sozialisation knetet und formt eine Persönlichkeit dynamisch in stetigem Wandel, bis man sich in einer gefestigten Silhouette wiederfindet, die das restliche Leben zu beschreiten hat. Doch einen Augenblick: Erreicht ein Mensch diesen Zustand einer gefestigten Silhouette jemals? Ist die Persönlichkeit und alle in ihr enthaltenen Bruchstücke jemals endgültig besiegelt?

Der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann beschreibt, dass die Sozialisation in drei Phasen unterteilt werden kann: primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisationsinstanzen. Zum Einen werden hier Familie, Verwandte und Freund:innen, zum Zweiten Kindergärten und Bildungseinrichtungen und zuletzt Gleichaltrige, Medien und Freizeitorganisationen umfasst. Der Mensch sei demnach gewissen Sozialisationsinstanzen ausgesetzt und nimmt eine aktive Rolle ein, diese durch ständige, lebenslange Selbstreflexion und komplexe Verarbeitung mit seiner/ihrer eigenen individuellen Integration in Einklang zu bringen. Lebenslang.

Von Asien nach Europa – die Immigration

Für das bucharische Kulturgut – das Essen, die Musik und viele Grundwerte der bucharischen Mentalität – bin ich sehr dankbar. Ich würde meinen, dass die bucharische Community ausgesprochen viel Wert auf Dankbarkeit, zwischenmenschlichen Respekt, Wärme, bedingungslose Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft sowie Zusammenhalt legt.

Zusammenhalt ist auch die Säule, die den Aufbau der bucharischen Gemeinde während der Emigration aus der ehemaligen Sowjetunion nach Wien in den 1960er/1970er-Jahren getragen hat. Ohne Hab und Gut. Ohne deutsche Sprache. Ohne Gewissheit. Dafür mit Hoffnung auf eine ergiebige Zukunft, für sich selbst und vor allem für die nächsten Generationen. Viele bucharische Familien etablierten sich im Diensthandel und öffneten kleine Geschäfte, um so Fuß zu fassen. Höherbildende Ausbildungen und akademische Titel waren mit harter Arbeit und vor allem Integrationsarbeit verbunden. Heute leben ungefähr 1.500 Buchar:innen in Wien, die sich in vielen Bereichen weiterentwickelt haben und erfolgreich wurden. An dieser Stelle soll unterstrichen werden, dass man sich vom stereotypischen Obst- und Gemüseverkauf zu renommierten Positionen mit akademischen Titeln hochgearbeitet hat.

Der Name unserer sephardischen Subgruppe geht auf die etwa 2.000 Jahre alte Stadt Buchara zurück. Diese liegt südwestlich von Taschkent in Usbekistan. Ginge man noch weiter zurück in der Geschichte so gibt es, wie in Dr. Grigori Galibovs Buch „Die Geschichte der bucharischen Juden in Wien“ beschrieben, Hinweise darauf, dass das jüdische bucharische Volk ihren Ursprung im ehemaligen Land “Medien” gehabt hat. Medien umfasst das heutige iran-irakische Grenzgebiet und erklärt, warum bucharische Jüdinnen und Juden auch jenen aus Persien zugerechnet wurden. So können auch Rückschlüsse auf die zuvor erwähnte bucharische Sprache gezogen werden: Nach der Zerstörung des Ersten Tempels 536 v. u. Z. und der darauffolgenden babylonischen Besatzung wurden viele der sich dort befindenden Jüdinnen und Juden in babylonische Gefangenschaft genommen. Als es schließlich zur Befreiung durch persische Kräfte kam, erfolgte eine Ansiedlung der befreiten jüdischen Bevölkerung im großpersischen Raum. Diese Lebensgemeinschaft und die Überwindung der sprachlichen Barriere resultierte im persischen Dialekt – der bucharischen Sprache. Bucharisch ist eine rein gesprochene Sprache, die, wie mein Großvater mir stets erklärt, ein essenzielles Kulturgut darstellt. Sie müsse von Generation zu Generation weitergegeben werden, damit sie sich unter den lebenden Fremdsprachen tapfer halten kann.

Öl und Wasser

Eine Kernfrage für mich persönlich ist jene der Zugehörigkeit.

Woher komme ich? Aus Wien. Ja, aber woher komme ich wirklich? Aus Usbekistan? Nein.

Ich bin an jenem Ort zugehörig, an dem ich von Menschen umgeben bin, die ebendiese Frage der Zugehörigkeit teilen.

Du wirkst überhaupt nicht typisch bucharisch!“ ist eine Aussage, die ich so oft zu hören bekomme, dass ich aufgehört habe, mitzuzählen. Warum bin ich mir nicht sicher, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist? Warum enthält das Wort “bucharisch” in diesem Kontext eine negative Konnotation? Warum fühle ich mich angegriffen und erleichtert zugleich? Ein innerer Konflikt, dem ich lange Zeit weniger Aufmerksamkeit geschenkt habe, als nötig wäre.

Diesen Artikel verfassend stelle ich eines fest: Es ist mir wichtig, den Reichtum dieser meiner Community zu erläutern und die schönen Seiten zu beleuchten und hervorzuheben. Gerade weil eine gewisse Stigmatisierung zwischen den unterschiedlichen jüdischen Subgruppen existiert. Buchar:innen seien primitiv. Buchar:innen könnten kein richtiges Deutsch. Buchar:innen seien keine Intellektuellen. Buchar:innen fehlt es an awareness. Buchar:innen seien sexistisch. Buchar:innen hätten keine anderen Ziele, als früh zu heiraten und Kinder zu bekommen. Es existieren Vorurteile und ein gewisses Schubladen-Denken, die in mir einen Verteidigungs-Instinkt wecken und einen Impuls entflammen, den Vorurteilen ein gegensätzliches Beispiel zu bieten.

Andererseits gilt es, auch jene Ansichten in der bucharischen Gemeinschaft zu erwähnen, mit denen ich mich nicht identifiziere und die meines Erachtens nach zu wünschen übrig lassen. An dieser Stelle ist klarzustellen, dass der folgende Vergleich nicht die Meinung aller widerspiegelt, jedoch eine Tendenz innerhalb der Gemeinde repräsentiert. 

Öl und Wasser. Eine Analogie, die ich in Bezug auf interreligiöse Beziehungen schon einmal in bucharischen Kreisen zu hören bekommen habe. Öl und Wasser hätten zwar ähnliche Eigenschaften, grundlegend unterscheiden sie sich allerdings. Würde man diese gemeinsam in ein Behältnis leeren und kräftig schütteln, scheint es zwar kurzfristig zu einer Emulsion zu kommen. Langfristig jedoch wird sich das Öl aufgrund seiner abweichenden Dichte wieder abtrennen und auf dem Wasser schwimmen. So sei auch eine interreligiöse Beziehung langfristig nicht kompatibel. Diese Ansicht teile ich nicht.

Unterschiedliche Kulturen, Geschichten, Traditionen sind etwas Wunderschönes. Menschen in seinem/ihrem Leben zu haben, die sich in diesen Dingen von einem selbst unterscheiden, würde ich als seelischen Reichtum bezeichnen. Für jede ausgewogene zwischenmenschliche Beziehung sind Respekt und grundlegende Gleichstellung absolut essenziell. Umso glücklicher bin ich, Freund:innen unterschiedlichster Herkunft und Religion zu haben. Denn nein, wir sind nicht wie Öl und Wasser – eher wie ein Innocent Smoothie.

Es macht mich glücklich, zu sehen, dass sich auch jüdische Subgruppen in Wien vermischen. Immer mehr bucharische Studierende werden bei den Jüdischen Österreichischen Hochschüler:innen (JöH) aktiv. Heute ist die Vizepräsidentin der JöH eine bucharische Frau. Ich bin positiv gestimmt, zu sehen, was die Zukunft bringt.

Wandel der Norm

Ich bin stolz auf die Geschichte meiner Eltern und Großeltern, auf meine bucharische Herkunft und darauf, das Stereotyp eines bucharischen Mädchens für mich neu zu definieren. Zeiten ändern sich, Normen damit auch. Isolation und Marginalisierung können gefährlich sein. Dies ist innerhalb der bucharischen Gemeinde eine Thematik, die sich – wie ich finde – langsam, aber laufend verbessert. Es benötigt vor allem Gespräche, Aufklärung, Ermutigung und Empowerment von bucharischen Mädchen und Frauen.

Jede:r ist im stetigen Wandel. Die Sozialisation hört nie auf. Wir hören nie auf, auf Einflüsse – auf Sozialisationsinstanzen – zu reagieren und diese zu verarbeiten. Vielleicht muss man allerdings neue Sozialisationsinstanzen, neue Orte, Menschen, Einflüsse zulassen. Toleranz, Offenheit, Selbstvertrauen und Mut, sich von Paradigmen zu lösen – dies sind Eckpfeiler, die ich anstrebe und für ein erfülltes Leben als essentiell erachte. In einem utopischen Gedankenexperiment sehe ich Menschen, die ihr volles Potential kennen und auskosten. Ich sehe Menschen, die wissen, dass sie genug sind und denen die Angst davor, nicht genug zu sein, unbekannt ist. Ich sehe Tische, an denen Männer und Frauen gleich laut und selbstbewusst Gedanken und Meinungen äußern können und sich die Auffassung jener nicht nach Geschlecht unterscheidet, auch nicht unterbewusst. Ich sehe Menschen, die sich Träume schaffen, ja diese sogar in Taten umsetzen und die sich keiner Norm fügen. Ich sehe Menschen, die glücklich und erfüllt sind, weil sie reflektiert und für sich selbst leben.