Wie das Jüdischsein unser Wahlverhalten beeinflusst
An einem Donnerstagabend sitze ich mit meiner Mitbewohnerin in unserer Küche. Diese Küche ist unser privater Schutzraum. Hier treffen wir uns, um über unseren Alltag zu reden, um über nervige Dozent:innen zu lästern und um gemeinsam den Tag ausklingen zu lassen. Doch hin und wieder wird dieser Schutzraum auch zu einem Ort, an dem hitzige Diskussionen über Politik geführt werden.
Meine Mitbewohnerin und ich haben vieles gemeinsam: Wir beide sind Jüdinnen, wir studieren, sind Anfang zwanzig und unsere Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Wir beide beschäftigen uns in unserer Freizeit mit jüdischem Studierenden Aktivismus, wir beide sind engagiert und politisch. Doch meine Mitbewohnerin wählt neoliberal, während ich grün wähle. Unsere Gespräche und gegensätzlichen politischen Positionierungen fordern mich immer wieder heraus und helfen dabei, über meine eigenen Standpunkte zu reflektieren. Doch gleichzeitig bringen sie mich zu der Frage, wie genau sich das Jüdischsein auf unser Wahlverhalten auswirkt. Denn wenn wir uns mit den gleichen Dingen auseinandersetzen und beide für eine bessere Zukunft für Jüdinnen und Juden in diesem Land kämpfen, warum werden wir uns politisch nicht einig? Spielt das Judentum bei der Frage, welcher Partei wir unsere Stimme geben, vielleicht gar keine Rolle? Und wenn doch, welche genau?
Die unterschiedlichen Vorstellungen, die in unserer kleinen Küche aufeinandertreffen, sind ein Beispiel unter vielen für die Diversität jüdischer Perspektiven. Auch bei der Bundestagswahl 2021 wurde diese sichtbar. Der Wahlkampf, die Ereignisse und Debatten um ihn, bestätigten, was wir ohnehin zu wissen glaubten: Jüdinnen und Juden sind kreuz und quer auf dem politischen Spektrum zu finden. Es gibt uns in links, grün, konservativ, sozialdemokratisch und neoliberal. Auch zeigte der Wahlkampf leider noch einmal deutlich, dass es selbst bei der rechtspopulistischen AfD einige, sogar aktive, Jüdinnen und Juden gibt.
Thora und Gerechtigkeit
Diesen verschiedenen politischen Richtungen nach zu urteilen, müsste man zu dem Schluss kommen, dass das Judentum in puncto Wahlen gar keine Rolle spiele. Doch wirft man einen Blick in unsere heilige Schrift, fällt es schwer, dies zu glauben. Politisch aktiv zu sein bedeutet nämlich, sich für Gerechtigkeit, die individuell oder kollektiv unterschiedlich definiert sein kann, einzusetzen. Es bedeutet, Verantwortung für sich und seine Umwelt übernehmen und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten zu wollen. Gerechtigkeitssinn und Verantwortungsgefühl sind also die besten Voraussetzungen für politische Partizipation. Ebenfalls sind beide ein wichtiger Bestandteil des Judentums und in der Thora fest verankert. Das Streben nach Gerechtigkeit, nach Zedek, ist unserem Glauben inhärent. Dabei gilt die Thora als eine Art Verfassung, die uns dazu anleitet, die Welt als einen gerechten Ort zu gestalten. Doch dies kann ohne unsere Beteiligung nicht funktionieren. Die Gesetze, die wir von Gott erhalten, sollen immer wieder von uns reflektiert und ausgelegt werden. Somit tragen wir alle Verantwortung und haben gleichzeitig die Möglichkeit, unsere persönliche Sichtweise in die Auslegung einzubringen.
Jüdinnen und Juden in Deutschland als migrantische Community
Angesichts dieser Tradition sollte man wiederum denken, Jüdinnen und Juden seien die am meisten politisierte Gruppe, die es nur geben kann. Aber auch das wäre zu kurz gefasst. Die Realität sieht anders aus, da nicht vergessen werden darf, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland eine mehrheitlich migrantische Community sind. Unsere Familien kommen zu einem großen Teil aus Ländern, die lange Zeit eine Diktatur waren und in welchen es teilweise bis heute keine freien Wahlen gibt. In meiner eigenen Familie bin ich die Erste, die über ein freies Wahlrecht verfügt. Die Sozialisierung in diktatorischen Regimen hat klare Konsequenzen für die politische Partizipation. Dazu gibt es auch eindeutige Statistiken aus Israel. Dort wählen die meisten Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion entweder rechtskonservativ oder gar nicht.
Was also tun mit dieser Diskrepanz zwischen dem, was die Thora uns eigentlich mitgibt und dem, wie die Lebenswirklichkeit der jüdischen Community aussieht?
Die Antwort ist, wie so häufig, dass es nicht die eine richtige Antwort gibt. Unsere Präsenz in Deutschland ist – 1700 Jahre hin oder her – noch sehr jung. Denn Fakt ist, dass wir als Community, wie sie heute besteht, künstlich geschaffen sind. Deutschland hat seine Jüdinnen und Juden seit den 90er-Jahren mehrheitlich importiert. Es fehlt uns heute an Statistiken und an Forschung dazu, wie wir uns seither als politische Gruppe entwickelt haben.
Hinter den Debatten, die meine Mitbewohnerin und ich in unserer kleinen Küche führen, steht letztendlich eines: Wir beide wünschen uns ein sicheres und selbstbestimmtes Leben für Jüdinnen und Juden in diesem Land. Wer dafür am Ende die klügere politische Wahl getroffen hat, kann nur die Zukunft zeigen.
Hanna Veiler