Jews ≠ White

Jews ≠ White

Dass es nicht „den Juden” gibt, sollte mittlerweile bekannt sein. Dass dieser in all seiner Diversität vor allem nicht weiß ist, und zwar ungeachtet von dessen Hautfarbe, wird häufig negiert. Hierdurch wird eine scheinbare Privilegiertheit von Jüdinnen und Juden und damit auch die Rolle als Unterdrückende konstruiert.

„Wieso sollte man mit dieser Ärztin Mitleid haben, sie ist doch eine privilegierte, weiße Frau?” So lautete eine Frage bei dem Publikumsgespräch, welches im Anschluss an eine Vorstellung des Theaterstücks Die Ärztin im Burgtheater stattfand. Das Gespräch sollte sich, in Kooperation mit dem Aktionsbündnis Black Voices, den Themen der Inszenierung widmen, also dem Rassismus, dem Antisemitismus und der gruppenbezogenen Feindlichkeit. Die oben genannte Frage scheint im Kontext der Antirassismusarbeit durchaus legitim, zumindest ist es der augenscheinliche Ausdruck einer gewissen Frustration. So ziehen sich systematische Diskriminierungen gegen Schwarze Menschen und People of Color durch alle gesellschaftlichen Bereiche. Sie sind häufiger sozio-ökonomisch benachteiligt, erfahren weitaus mehr Polizeigewalt und rassistische Anfeindungen, erhalten systematisch weniger Zusagen bei der Suche nach Arbeits- oder Wohnplätzen und sind mehr oder weniger in allen Bereichen des öffentlichen Lebens unterrepräsentiert, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Andererseits gehen solche und andere Diskriminierungen mit systematischen Privilegierungen für alle Menschen einher, die dem mehrheitsgesellschaftlichen Verständnis von weiß entsprechen – dafür reicht bereits die Abwesenheit der genannten Benachteiligungen. Ob man Menschen, die mit einer weißen Hautfarbe geboren wurden und damit Privilegien mehr oder weniger in den Schoß gelegt bekommen haben, nicht auch bemitleiden kann, ist diskutierbar. Abgesehen davon existieren auch ökonomische oder klassenbezogene Formen der Diskriminierung, die sich nicht ausschließlich auf Hautfarbe und Herkunft beziehen müssen. Das Kernproblem der einleitenden Frage ist jedoch ein anderes: Die Ärztin, um die es sich im gleichnamigen Stück handelt, ist jüdisch.

Professor Bernhardi

Die Ärztin ist eine sehr freie Überschreibung des Theaterstückes Professor Bernhardi, geschrieben von dem jüdischen Dramatiker Arthur Schnitzler, in dem ein jüdischer Arzt (Professor Bernhardi) einer Hetzkampagne zum Opfer fällt, nachdem er einem katholischen Priester die Verabreichung der Sterbesakramente an eine im Sterben liegende Frau verweigert. Dabei beschreibt
Schnitzler eindrücklich die antisemitische Facette dieser Hetze und damit auch den (politischen) Antisemitismus in Österreich um die Jahrhundertwende. In der Neuauflage steht die jüdische, lesbische Ärztin Ruth Wolff im Zentrum der Erzählung und hat grundsätzlich mit denselben Anfeindungen und Übergriffen zu kämpfen, wie einst Bernhardi. Jedoch besteht ein entscheidender Unterschied, der erst ab der Mitte des Stücks offenbart wird: Der katholische Priester ist Schwarz. Hierdurch sieht sich Wolff im Handumdrehen nicht mehr nur mit Vorwürfen der Christenfeindlichkeit, sondern auch jenen des Rassismus konfrontiert, welche ihren Höhepunkt in einer Talkshow finden, in der sie sich nach Monaten der Schikane und antisemitischer Anfeindungen nun zu dem Vorfall äußern möchte. Von den geladenen Expert:innen der Talkshow wird ihr jedoch geraten, sie solle als weiße Ärztin ihre Privilegien, Wortwahl und Ignoranz hinterfragen, mit der sie Schwarzen Menschen begegnet – ihr Verhalten stehe in der Kontinuität einer jahrhundertelangen westlichen Kolonialgeschichte.

Das durchaus ältere Publikum im Burgtheater muss während dieser Szene laut auflachen: sie finden das “Cancel-Culture-Gequatsche” übertrieben und amüsant. Doch wie in dem darauffolgenden Publikumsgespräch deutlich wird, stößt das Lachen auf Unverständnis seitens der Schauspieler:innen: es war nicht witzig gemeint.

Jüdinnen und Juden als weiße

Auch jüdische Zuschauer:innen können bei der Szene wohl kaum schmunzeln: die jüdische Hauptfigur des Theaterstücks, welches in der Originalfassung antisemitische Hetze zum Gegenstand hatte, wird in Die Ärztin zur scheinbar ignoranten, weiß-privilegierten Protagonistin. In einer solchen Darstellung trägt sie zumindest auch eine Teilschuld an den erfahrenen Anfeindungen und Übergriffen – sie hat sie bis zu einem gewissen Grad verdient. Dass solche Interpretationen tatsächlich der theatralischen Darstellung folgen, beweist die eingangs genannte Frage. So bleibt schlussendlich nur die Behauptung der Privilegiertheit einer Jüdin, die Opfer antisemitischer Gewalt wird und der Fakt, dass keine dezidiert jüdische Perspektive auf einem Podium sprechen durfte, welche Antisemitismus zu einem seiner Kernthemen erklärt hätte, um dieser Äußerung widersprechen zu können. Damit reiht sich Die Ärztin in die Kontinuität eines Narrativ ein, das versucht, Jüdinnen und Juden als weiße darzustellen. Als solche seien sie auch Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft, müssten nicht geschützt werden und benötigten erst recht keinen eigenen Staat. Offensichtlich findet sich diese Argumentationslinie in Bezug auf Israel: Weiße Europäer:innen hätten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Nahen Osten begeben, um dort das indigene, palästinensische Volk zu kolonisieren – Christopher Columbus-Style. Damit werden Jüdinnen und Juden in der postkolonialen und antiimperialistischen Debatte in denselben Topf geworfen wie beispielsweise die britische Monarchie, die über Jahrhunderte hinweg systematisch den Sklavenhandel förderte, dabei ganze Kulturen auslöschte, um deren Kulturerbe schließlich im British Museum der westlichen Welt zur Schau zu stellen. Doch auch in Form einer Shoah-Relativierung erscheint die Darstellung von Jüdinnen und Juden als weiß, wenn beispielsweise Whoopi Goldberg, eine US-amerikanische Schauspielerin und Moderatorin – behauptet, der Holocaust hätte sich nicht um Rasse gehandelt – es wären lediglich weiße Menschen gewesen, die anderen weißen Menschen etwas angetan hätten.

Wie wichtig ist das, was der Spiegel sagt?

Jetzt könnten sich die meisten aschkenasischen Jüdinnen und Juden im Spiegel anschauen und durchaus feststellen, dass ihre Hautfarbe am ehesten der Farbe weiß entspricht. Trotzdem ist die Bezeichnung jüdischer Menschen als weiß ein fataler Trugschluss. Nicht nur die Fülle an Jüdinnen und Juden, die keine weiße Hautfarbe haben, wird negiert, wie beispielsweise äthiopische, sephardische oder misrachische Jüdinnen und Juden. Vor allem meint der gebräuchliche und damit politische Begriff weiß, beispielsweise im Kontext von Imperialismus oder einer Mehrheitsgesellschaft, keinesfalls nur die Farbe der Haut. Vielmehr geht es um hegemoniale Macht, Privilegien, Diskriminierung und Ausbeutung von Minderheiten, kulturelle Aneignung und eine jahrhundertelange Kolonialgeschichte. Solch ein Verständnis von weiß kann man in der Abwesenheit antisemitischer Ressentiments wohl keinesfalls ernsthaft auf Jüdinnen und Juden beziehen. Der Zuschreibung von Macht und Privileg steht ein kollektives Trauma von jahrtausendelang erfahrener Enteignung, Verfolgung und Ermordung entgegen. Insofern sind jüdische Menschen auch nicht als Antagonist:innen im antirassistischen Kampf zu verstehen oder zu framen und auch die Vorwürfe von Privilegien und Ignoranz sind hier allenfalls deplatziert. Sie unterliegen als unterdrückte Minderheit ebenfalls hegemonialen Machtverhältnissen wie Schwarze Menschen, People of Color und alle anderen Minderheiten, wenn auch oft nicht in derselben Form.

Wer lacht?

Letztendlich bleibt dem Theaterstück nur ein ins Lächerliche gezogener Rassismusvorwurf an eine jüdische Ärztin, die Opfer von Antisemitismus wird, mit dem Effekt der gleichzeitigen Relativierung von Antisemitismus und Rassismus. Vor allem bleibt die Frage, warum es eine jüdische Hauptfigur braucht, um systematische Diskriminierungen von Schwarzen Menschen und People of Color zu thematisieren.

Am Ende lachen weder Schwarze, People of Color, noch jüdische Zuschauer:innen. Es lachen auch nicht die Schauspieler:innen. Es lacht nur das weiße Publikum im Burgtheater. Es hat auch zu lachen, denn das gegenseitige Ausspielen von Minderheiten schafft wieder einmal Anlass, die eigene Ignoranz und Privilegiertheit zu relativieren. So bleiben sowohl Antisemitismus als auch Rassismus besser verdaulich.

Alon Ishay

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