Eine unvorhersehbare Katastrophe (oder auch nicht?)
Am 7. Oktober 2023 ist etwas in mir sowie in den allermeisten Israelis kaputt gegangen. Wir waren uns immer bewusst, in was für einer Nachbarschaft wir leben und was man uns gerne antun würde. Wir waren aber auch immer davon überzeugt, dass unsere Armee und die Geheimdienste die Besten der Region sind und wir uns auf sie verlassen können, wenn wir abends ins Bett gehen. Dieses Sicherheitsgefühl ist nun nicht mehr da. Aber wie konnte es so weit kommen und noch wichtiger: Was machen wir jetzt?
Um zu verstehen, was an diesem schwarzen Tag passiert ist, muss man zunächst die Politik der israelischen Regierungen seit 2007, dem Jahr, in dem die Hamas die Kontrolle über Gaza übernommen hat, betrachten. In 13 von diesen 16 Jahren hieß der Premierminister „Bibi“ Netanyahu und der politische Kurs war ganz klar: Die Hamas ignorieren und die palästinensische Autonomiebehörde schwächen. Das Ziel dieser Vorgehensweise war es, um jeden Preis die Perspektive für einen unabhängigen palästinensischen Staat zu blockieren. Es ist einfach, der Welt sowie den eigenen Bürger:innen zu erklären, dass man mit der Hamas keinen Partner für Verhandlungen hat.
Nicht umsonst hat der rechtsextreme Finanzminister und Siedler Bezalel Smotrich bereits 2015 offen gesagt, dass „die Hamas ein Gewinn für uns und die palästinensische Autonomiebehörde eine Last“ sei. Für ihn und seinesgleichen war immer schon klar, dass jeder Anschlag ihrem religiös-fanatischen Projekt in der Westbank mehr Legitimation gibt. Denn was gibt es für eine bessere Reaktion auf einen Terrorangriff als eine neue Siedlung zu bauen? Diese Politik gipfelte in Koffern voller Bargeld aus Katar, die in den letzten Jahren nach Gaza und direkt in die Hände der Hamas flossen, während diese sich in Ruhe auf ihr geplantes Pogrom vorbereiten konnte.
Priorities by Bibi
Im letzten Jahr, während die Hamas unter dieser
Ignoranz immer stärker wurde, befand sich Israel in einem dauerhaften Ausnahmezustand. Die rechtsextreme Regierung von Netanyahu rief einen Krieg aus, aber nicht gegen Feinde von außen, sondern gegen die liberale Demokratie und vor allem gegen das Justizsystem.
Die ohnehin schon gespaltene Gesellschaft begann sich über Monate hinweg immer mehr zu polarisieren und die Aussichten verdüsterten sich, während die Regierung langsam mit dem Umbau Israels in eine Autokratie begann. Nichts außer der „Justizreform“, aka Staatsumbau, schien wichtig zu sein. Geld floss fast nur an kleine Interessensgruppen, um ihre Stimmen damit zu kaufen. Alle anderen Bereiche wie das Gesundheits- oder Bildungssystem, die dringend Reformen und Budgets benötigt hätten, wurden vollkommen außer Acht gelassen. Jener Teil der eigenen Bevölkerung, der sich klar dagegen aussprach und wöchentlich demonstrieren ging, inklusive vieler Soldat:innen, Offizier:innen und Geheimdienstmitarbeiter:innen aus den besten Ein-heiten, wurde als Feind markiert.
Als Verteidigungsminister Yoav Gallant im März davor warnte, dass Israel vor „unmittelbaren und signifikanten“ militärischen Bedrohungen stehe und daher der Fokus sofort weg von dem Umsturz der unabhängigen Justiz und stattdessen auf diese Bedrohungen gerichtet werden müsse, wurde er entlassen und erst nach den größten Massenprotesten der israelischen Geschichte wieder eingesetzt. Als der Armeechef einige Tage vor der endgültigen Abstimmung über den ersten Teil der antidemokratischen Gesetze mehrmals um ein Treffen mit Netanyahu ersuchte, um ihm die potenziell katastrophalen Auswirkungen dieses Handelns auf die Armee zu erklären, wurde dies immer wieder abgelehnt. Dieser Vertrauensbruch war für viele Reservist:innen, die im Kriegsfall den Großteil der Kräfte ausmachen, so gravierend, dass sie bekanntgaben, von diesem Zeitpunkt an nicht mehr an freiwilligen Übungen teilzunehmen. Doch nicht einmal das konnte die Regierung davon überzeugen, ihre antidemokratischen Bestrebungen zu unterbrechen. Stattdessen wurden die Menschen, die regelmäßig ihr ziviles Leben und ihre Familien zurücklassen, um diese undankbaren Aufgaben zu übernehmen, öffentlich beschimpft und als Verräter an den Pranger gestellt.
Wir sind die Stärksten!
Trotz all dieser besorgniserregenden Entwicklungen waren sich die allermeisten Israelis in einer Sache einig: Wir haben die stärkste Armee im Nahen Osten, die qualifiziertesten Geheimdienste der Region, vielleicht sogar der Welt und wir sind daher immer auf alles vorbereitet. Wir sind zwar umgeben von uns nicht gerade freundlich gesinnten Nachbarn, aber solange der Iran keine Atomwaffen hat, ist eigentlich alles unter Kontrolle. So hätte man meinen können. Ebenfalls ging man von der Prämisse aus, dass die Hamas und die Hisbollah abgeschreckt seien und auf keinen Fall einen richtigen Krieg anfangen würden, da bei ihnen ebenfalls das Bewusstsein dafür existiere, welch hohen Preis sie dafür zahlen müssten. Wir sind davon ausgegangen, dass vor allem die Hamas keine lebensbedrohende Gefahr darstellt, da wir um Milliarden einen High-Tech Zaun an der Grenze zu Gaza errichtet haben, dass die Geheimdienste Shabak und Aman zu jedem Zeitpunkt wissen, was in Gaza passiert und, dass wir uns mit katarischem Geld Ruhe gekauft haben.
Diese Überzeugung führte so weit, dass den zivilen Bereitschaftseinheiten (der ersten Verteidigungslinie) in den Kibbuzim rund um Gaza fast alle ihre Waffen weggenommen wurden, bis es in manchen nur mehr ein bis zwei Waffen gab. Und genau diese Waffen, die den Kibbuzim abhanden gekommen waren, wurden dann fleißig in den Siedlungen der Westbank verteilt. Dasselbe passierte mit Armeekräften, die in den letzten Monaten überwiegend in der Westbank stationiert wurden, was dazu führte, dass nun weniger Kräfte als sonst üblich die Grenzen zum Gazastreifen bewachen konnten. Zuletzt wurden Einheiten in der Westbank beispielsweise dafür eingesetzt, um eine Sukkah des rechtsextremen Parlamentariers Zvi Sukkot abzusichern, die er im palästinensischen Dorf Huwara errichtet hatte.
Und dann am 7. Oktober, zu Simchat Torah, genau 50 Jahre nach dem Jom Kippur Krieg und wieder an einem Feiertag, brachen alle diese Vorstellungen, in Israel „Konsep Zia“ genannt, wie schon damals 1973, auf einmal zusammen. Systeme, die Millionen kosteten, wurden mit einfachen Drohnen und selbstgebauten Sprengsätzen außer Kraft gesetzt, der „unüberwindbare“ Zaun mit Baggern niedergerissen und die Armee wurde mit viel zu wenigen Kräften und viel zu unvorbereitet überrascht. Hamas-Kämpfer von der „Nukhba“, ihrer Spezialeinheit, strömten nach Israel und eroberten als erste fremde Kraft seit 1948 israelisches Staatsgebiet.
Während ein Journalist aus Gaza in aller Ruhe aus einem Kibbuz berichtete, mordeten, vergewaltigten, entführten und verbrannten die abscheulichen Terroristen fast ungestört. An manchen Orten sollte es noch sieben Stunden dauern, bis die ersten Soldat:innen kamen, um jene, die noch lebten, zu retten. Mittlerweile wissen wir, dass zumindest 1,400 Menschen ihr Leben verloren und noch mindestens 240 Menschen in Gaza als Geiseln festgehalten werden, größtenteils Zivilist:innen. Das sind Zahlen, die in Israel niemand jemals für möglich gehalten hätte.
An diesem und an den darauffolgenden Tagen gab es viele Held:innen, die einen sehr hohen persönlichen Preis bezahlen mussten, um andere zu retten. Manche bezahlten mit ihrem Leben. Doch in der Armee sagt man “ככמות הצל״שים כך גדול הטעויות“ „In einem Kampf, in dem es viele Orden gibt, gab es davor genauso große Fehler“ und niemals war dies offensichtlicher als an diesem Tag.
Was nun?
Mittlerweile sind bereits vier Wochen seit diesem unfassbar schweren Erwachen vergangen und die Situation hat sich wenig verändert. Der Krieg wird größtenteils mit Luftschlägen und Artillerie geführt, vor wenigen Tagen hat die Bodenoffensive begonnen. Gleichzeitig gibt es weniger intensive Kämpfe mit der Hisbollah an der Grenze zum Libanon, aber auch dort bereitet man sich auf eine potenzielle Eskalation vor. Die Bodenkämpfe in Gaza sind zwar mit hohen Preisen für die israelische Bevölkerung und hohen Verlusten in der Armee verbunden, scheinen aber notwendig, um die Gefahr, die von den Organisationen Hamas und Hisbollah ausgeht, zu minimieren. Die Armee ist jedenfalls, nachdem sie den ersten Schock überwunden hat und über 350.000 Reservist:innen eingezogen hat, dabei, die Mission auszuführen und ich bin mir sicher, dass sie sie auch erfolgreich abschließen wird.
Eine der großen Fragen, die sich dabei stellt, ist, ob die Geiseln im Rahmen eines Gefangenenaustauschs befreit werden können oder ob nun nicht die Zeit für Verhandlungen ist. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die israelische Armee mit 6.000 Terroristen in Gaza umgehen kann. Jedoch bin ich auch davon überzeugt, dass die 240 Geiseln in Gaza keinesfalls mit nur einem einzigen weiteren Tag in den Tunneln unter Gaza City umgehen werden können, geschweige denn sollten.
Es ist allerdings vollkommen klar, dass eine militärische Lösung allein nicht ausreichen wird. Nach dem Ende des Krieges müssen Verhandlungen um eine langfristige, politische Lösung beginnen. Das Ziel muss sein, dass zwei souveräne Staaten friedlich, wenn auch sicher nicht mit großer Liebe zueinander, koexistieren können. Wenn es langfristig keine solche Lösung geben wird, dann werden die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 wahrscheinlich nur eine traurige und abscheuliche Vorschau sein auf das, was uns noch bevorsteht. Deswegen kann ein militärischer Sieg nur der erste Schritt sein, nach dem mithilfe der internationalen Gemeinschaft an echten Lösungen und Sicherheitsgarantien gearbeitet werden muss.
Dazu wird es Zeit brauchen und vor allem einen Wechsel an der Staatsspitze. Einerseits ist zu befürchten, dass Israel einen weiteren Rechtsruck erleben wird, der wiederum solch eine Lösung in weite Ferne rücken lässt. Andererseits besteht die Hoffnung, dass nach dieser Katastrophe ein großes Aufwachen in der israelischen Gesellschaft passieren könnte und der Status Quo in Frage gestellt wird. Wie kann es sein, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe gerade keine Angst um die eigenen Familienmitglieder hat, weil sie als Ultraorthodoxe keinen Armeedienst leisten, während sie von Steuergeldern finanziert leben? Bringt uns, wie die politische Rechte immer behauptet, die andauernde Besatzung und Siedlungspolitik in der Westbank wirklich Sicherheit? Oder macht sie uns vielleicht doch unsicherer? Wie kann es sein, dass unsere politische Führung so versagt hat und sich dann vor der Verantwortung drückt? Diese Fragen und noch viele andere wird sich die israelische Gesellschaft nach dem Krieg stellen müssen, um das Land gesellschaftlich, wirtschaftlich und sicherheitstechnisch neu aufzubauen.
Ari Marhali