“Nichts hätte uns auf ein Ereignis dieser Größenordnung
vorbereiten können”
Am Samstag, den 7. Oktober 2023, weckte mich die Nachricht eines Freundes um 6:45 Uhr: „Sie bombardieren Tel Aviv, wir kommen zu euch, nach Chatzewa.” Für einige der Leser:innen in Europa mag das schockierend klingen, aber für die Bewohner:innen Israels ist das eigentlich ganz normal.
Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass in den letzten Jahren die Hamas immer wieder Raketen aus Gaza nach Israel abfeuert. Meistens trifft es die angrenzenden Dörfer und Städte von Gaza, aber gelegentlich erreichen die Raketen auch Israels Zentrum, sogar Tel Aviv. Die fröhliche Stadt mit dem langen Sandstrand, den Partys, den Restaurants und den lockeren Menschen. Dieselbe Stadt kann sich innerhalb weniger Minuten in eine Geisterlandschaft verwandelt, deren Bewohner:innen sich verängstigt in Bunker und Safe-Rooms verstecken.
Glücklicherweise leben meine Familie und ich in einem Dorf namens Chatzewa, das sich in der Arava-Wüste befindet. Ein Ort, der in den letzten Jahrzehnten nie von Raketenbeschüssen heimgesucht wurde. Es ist eine verlassene Gegend mit wenigen Bewohner:innen, so dass es sich für die Hamas nicht wirklich auszahlt, seine Raketen auf uns zu feuern. In unsicheren Zeiten wie diesen finden Menschen deshalb bei uns oder in ähnlichen Gegenden Schutz.
Ich schalte den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Sehr schnell wird klar, dass es sich um etwas anderes, größeres und viel schlimmeres handelt. Die Hamas schoss eine unglaublich hohe Zahl an Raketen auf israelisches Gebiet und parallel dazu kamen Berichte, dass Terrorgruppen in die Dörfer über der Grenze durchgedrungen seien. Und dass ein Soldat entführt wurde. Jeder, der Israel kennt, weiß: Ein entführter Soldat ist wie eine offene Wunde im Herzen der gesamten israelischen Gesellschaft.
220 Menschen entführt
Als ich 2003 zum Militär ging, wurde ich zur Operationskoordinatorin ausgebildet. Anders als bei anderen Ausbildungen begann die Lektion über Entführungen mit dem Satz: ‚Wenn ein Soldat entführt wird, gerät das ganze Land in Aufruhr.“ Am Samstag, den 7. Oktober, als die Gerüchte über einen entführten Soldaten aufkamen, war das ganze Land in Aufruhr.
Mein Mann Uri, der während seines Militärdienst in einer Eliteeinheit diente und als Reservist in einer Einheit zur Terrorbekämpfung tätig ist, wurde sofort einberufen. Wenn dieser Einzugsbescheid kommt, hat man keine Wahl. Innerhalb von zehn Minuten muss man bereit und bewaffnet sein.
Zu meinem Leidwesen kann ich erzählen, dass wir, die israelischen Frauen, also meine Freundinnen und ich, diese Situation bereits kennen. Wir haben viele Tage allein verbracht, als unsere Ehemänner gefährliche Bereitschaftsdienste hatten. Aber ich kann meine Gefühle nicht in Worte fassen, als ich an diesem Samstag, allein mit meinen kleinen Kindern zu Hause, eine Abschiedsnachricht von Uri bekam – danach war er nicht mehr erreichbar. Das Wissen, dass er sich an einem Ort befand, von dem er selbst nicht glaubte, lebend zurückzukommen, war unerträglich.
Mit der Zeit wurde das Ausmaß der schockierenden Situation immer deutlicher: Etwa 3.000 Terroristen der Hamas waren in 22 Dörfer und Städte eingedrungen und verübten ein grausames Massaker an den unschuldigen Bewohner:innen: Männer, Frauen, Alte, Kinder und Babys. Weiters kam die Nachricht, dass bei einem großen Musikfestival nahe der Grenze die Hamas wahllos jugendliche Teilnehmer:innen massakrierte. Und die nächste, nicht minder tragische Gewissheit kam auf: Die Hamas hatte über 220 Menschen entführt – darunter wieder Soldaten, Alte, Frauen, Kinder und Babys, das jüngste nicht einmal ein Jahr alt.
Nach zwei blutigen Tagen gelang es den israelischen Streitkräften alle Dörfer und Städte wieder in ihre Gewalt zu bringen. Viele verloren dabei ihr Leben. 1.400 ermordete Menschen. Eine Zahl, die wir nicht begreifen können.
Die Situation in den zerstörten Kibbuzim war verheerend, ein Albtraum: Menschen wurden lebend verbrannt, gefoltert, geschlachtet und massakriert. Um Mitternacht kam mein Mann zurück und erzählte, dass er niemals zuvor solche Dinge gesehen hat. Ein Mann, der in mehreren Kriegen an der Front gekämpft und Freunde verloren hat.
Schwarzer Schabbat
Von diesem Samstag an stand das Land still. Geschäfte wurden geschlossen, die Schulen sperrten nicht auf, Menschen gingen nicht zur Arbeit und die Armee berief alle Reservist:innen ein. Heute, drei Wochen später, kann ich sagen, wir standen alle unter einem kollektiven Schock. Alle zusammen und jede:r für sich. Nichts hat uns auf ein Ereignis dieser Größenordnung vorbereiten können. Die gesamte israelische Bevölkerung war wie gelähmt, so dass sie kaum funktionieren konnte. Aber erstaunlicherweise kam zwei Tage nach dem schwarzen Schabbat – so nennen wir diesen Tag – Bewegung auf. Zahlreiche zivile Initiativen, Hilfsprojekte, Spenden und andere Aktivitäten für die Geflüchteten und für die Armee sprossen aus dem Boden. Israelis öffneten ihre Türen und ihre Taschen für die Menschen, die aus dem Süden evakuiert worden waren und überall sah man Hilfe und gegenseitige Unterstützung. Auch das Dorf, in dem ich lebe, bereitete sich darauf vor, mehrere 100 Familien aufzunehmen. Auch kam es zu einer ebenfalls erstaunlichen Sache: Viele sich im Ausland befindenden Israelis, ob auf Urlaub oder Arbeitsaufenthalt, wollten so schnell wie möglich zurück nach Israel, um in der Nähe ihrer Familien und Freund:innen zu sein. In welchem anderen Land der Welt würden Menschen in Kriegszeiten alles daran setzen, wieder nach Hause zu kommen, um zu kämpfen und Teil des gemeinsamen Kampfes um die Existenz ihres Staates zu sein?
Obwohl ich mit 38 Jahren relativ jung bin, bin ich die Tochter eines Auschwitz-Überlebenden. Die Erinnerung an die Shoah liegt also nahe. Die Grausamkeit, deren Zeugen wir an diesem Tag wurden, kannte ich nur aus den Geschichten meines Vaters und meiner Großeltern. Das war bislang etwas aus der Vergangenheit, das sich heute niemand mehr vorstellen konnte. Als die Shoah-Überlebenden mit ihren Geschichten nach Israel kamen, konnten es die Menschen kaum glauben. Und siehe da, 84 Jahre später, empfangen wir Familien bei uns, deren Liebste auf grausamste Art ermordet wurden und die selbst durch Zufall, ob in Schränken versteckt oder sich totstellend, aus dieser Hölle entkommen konnten. Im Unterschied zu damals und „dank“ der modernen Technologie konnte man fast alles live am Smartphone mitschauen.
Für unsere Existenz kämpfen
Meine politische Einstellung und meine Meinung über die Regierung möchte ich an dieser Stelle nicht ausführen. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt ist die Zeit, um für unsere Existenz zu kämpfen und unseren Feind zu besiegen. Nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Wer nämlich glaubt, der militante Islamismus wäre ein Problem der Israelis, sollte seine Meinung gut überdenken.
Und bis dahin bitte ich euch, unsere Botschafter:innen der Wahrheit zu sein, auf unserer Seite zu stehen und daran zu glauben, dass wir das Recht haben, uns und unser Leben in unserem Land zu verteidigen.
„Eure Tapferkeit steht der der Makkabäer um nichts nach“ sagte 1980 Premierminister Menachem Begin zu den Offizieren der Spezialeinheit “Sayeret Matkal”. Ich bin stolz darauf, ein Teil dieses Volkes zu sein, das stark und moralisch agiert, und dessen Tapferkeit der der Makkabäer um nichts nachsteht. Sogar heute. Und ich glaube aus vollem Herzen daran, dass wir von diesem schrecklichen Tiefschlag wieder hochkommen werden, gestärkt und vereint.
Meital Zegla-Levite
(Aus dem Hebräischen übersetzt von Sharon Nuni)