Tagebucheintrag 11/10/2023
Ich denke fest an meine Freundin, von der ich seit einer Woche nichts gehört habe und bete zu G’tt, dass sie ermordet und nicht entführt wurde. Der Slogan „Keine Waffen, keine Gewalt“ muss hinterfragt werden, nachdem das jüdische Volk ein unvergleichliches Massaker in seinen eigenen vier Wänden erlebt hat. Ich frage mich: Wenn Aktivist:innen, die sich in heuchlerischer, politischer Richtigkeit baden, für alles auf die Straßen gehen, warum nicht gegen die Entführung, Vergewaltigung und Ermordung von Jüdinnen und Juden?
11/10/2023
Heute bin ich um 5:00 Uhr aufgewacht und zu meiner Militärbasis gefahren. Nun gut, meine eigentliche Basis, die für eineinhalb Jahre mein zweites Zuhause war, ist zu einem Schlachtfeld mutiert. Meine Soldaten wurden brutal ermordet, meine Soldatinnen vergewaltigt und entführt. Als ich meine Freund:innen der Reihe nach anrufe, um zu fragen wie es ihnen geht, ehrlich gesagt eher, um zu schauen, ob sie noch am Leben sind, erzählt mir meine Mitbewohnerin, dass ihre Arbeitskollegin heute den geschlachteten Kopf ihres Sohnes auf Whats-App geschickt bekommen hat. Ich muss kurz aufhören zu schreiben, ich kann das Zittern meiner Hand schwer kontrollieren.
Genau, wo war ich? Ah ja, bei der Schlachtung der Geiseln. Ich fasse mich und antworte meiner Mitbewohnerin, so wie wir hier in Israel jedes Gespräch beenden: יאללה יהיה בּסדר – Yalla, alles wird gut. Ich lege auf, nehme einen tiefen Atemzug und wische die Tränen ab.
Auf einmal sehe ich meinen alten Offizier, den ich über ein Jahr nicht mehr getroffen habe, und spüre einen Funken Aufregung. Ich gehe zu ihm und flehe ihn an, mit an die Grenze fahren zu dürfen. Er gibt mir eine feste Umarmung und sagt: “Avija, deine einzige Aufgabe ist, auf dich aufzupassen.”. Ich lächle, drücke ihn fest und drehe mich um. Plötzlich sind Schreie zu hören: “Alle in die Zimmer, Terroristen auf der Basis, alle laufen!” Alle, die ihre Waffe bei sich haben, laden sie und rennen auf den Zaun zu. Wo verstecke ich mich? Soll ich mich in den Stromkasten einschließen? Aber dort gibt es nicht genug Platz für uns alle. Wir bleiben zusammen und laufen weiter in den Bunker: Ich sitze mit meinen Freund:innen, wir halten gegenseitig unsere Köpfe und verstecken uns unter dem Tisch. Ich bin gelähmt, wir sind alle gelähmt. Die Soldatinnen schreien, weinen und wir rufen unsere Familien an für den Fall, dass das die letzte Chance ist, es zu tun. Und jetzt kann man nur noch die Augen schließen und das Gebet Shema Israel sagen. Die große Ironie ist, dass sich die Basis direkt neben einer Moschee befindet, in der die israelisch-arabischen Muslim:innen gerade ihr Abendgebet beginnen. Wie üblich ertönt aus den großen Lautsprechern der Gebetsaufruf “Allahu Akbar” und hallt in den Wänden des Bunkers wider. Wie respektlos dem Islam gegenüber, was diese islamistischen Tiere aus den heiligen Wörtern der Muslim:innen gemacht haben? Statt einem Aufruf zum Gebet rufen die Worte “Allahu Akbar” mittlerweile bei mir ganz andere Assoziationen auf… Aber gut, zurück zur Sache: Nach circa 20 Minuten wird durchgesagt, dass wieder Routine herrscht und die Lage sich stabilisiert hat. Und wie ich vorher schon gesagt habe, alles was man machen kann ist sich ansehen, kurz umarmen, Kopf hoch und: יאללה יהיה בּסדר – Yalla, alles wird gut. Ein kurzer Anruf an die Freund:innen, die Partner:innen. Wenn man Glück hat, heben sie ab und wenn nicht, dann setzen sie wahrscheinlich gerade ihr Leben aufs Spiel, um an den Grenzen zu kämpfen. Ich denke fest an meine Freundin, von der ich seit einer Woche nichts gehört habe und bete zu G’tt, dass sie ermordet und nicht entführt wurde. Sie war auf dem Musikfestival, am Samstag, das ab 6:00 Uhr zu einem Massaker wurde und Hunderten das Leben geraubt hat. Das, was ich in den letzten 20 Minuten gefühlt habe, macht es für mich unvorstellbar, was sie auf dem Festival erlebt hat. Egal Avija, gute Gedanken schaffen eine gute Realität, הכל יהיה בּסדר – alles wird gut. Leg dich hin, mach die Augen zu und erinnere dich daran, jeden Tag dankbar zu sein, sie wieder öffnen zu dürfen.
Gute Nacht
Avija Gross