Verlust
eines Zuhauses
Wir Juden und Jüdinnen der Diaspora leben seit dem 7. Oktober in einer parallelen Realität. Wir sind im Schock, doch die Welt um uns herum lebt normal weiter. Vor uns tut sich ein Abgrund auf, den wir kaum begreifen können.
Ich denke an Ohad, der seinen neunjährigen Geburtstag in der Hamas-Gefangenschaft verbringt. In einem Video sehe ich seine Oma, die an diesem Tag für ihn singt. Der Schmerz ist kaum zu ertragen.
Ich denke an Hersh, der als Geisel nach Gaza verschleppt wurde. Ich kenne Hersh, er ist der große Bruder einer alten Schulfreundin aus Jerusalem. Wir lebten in derselben Nachbarschaft. Zur Zeit des Angriffs am 7. Oktober befand sich Hersh auf dem Nova-Festival und suchte nach Schutz in einem Unterstand. Mit seinen bloßen Händen half er, die Granaten, die von den Hamas-Terroristen durch die Öffnungen des Schutzraums geworfen wurden, zurück nach draußen zu werfen und rettete somit mehrere Menschen. Sein bester Freund, mit dem er noch eine Stunde davor befreit tanzte, wurde getötet. Hersh selbst hat einen Arm verloren. Anschließend wurde er brutal nach Gaza verschleppt. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr, keiner weiß, wie es ihm mit seiner Verletzung geht und ob er versorgt wird. Das Einzige, was ich jeden Tag sehe, sind die verzweifelten Aufrufe seiner Familie nach seiner Freilassung.
Ich denke an Noa, auch eine alte Schulfreundin von mir. Kurz vor dem 7. Oktober hat sie ihren Armeedienst als Wachposten am Zaun zum Gazastreifen beendet. An dem dunklen Tag des Angriffs wurde ihr Stützpunkt im Kibbutz Nahal Oz von 50 Hamas-Terroristen überfallen. Alle anwesenden Wachtposten, acht junge Soldatinnen, versuchten verzweifelt über das Funkgerät nach Hilfe zu rufen. Sie alle wurden gnadenlos ermordet. Meine Freundin Noa hat an diesem Tag all ihre Freundinnen verloren. Nun sehe ich jeden Tag einen Beitrag von einer weiteren Beerdigung, auf der sie sich von ihnen verabschiedet.
Ein Freund, der sich zurzeit in der Armee befindet, meldet sich nach einigen Tagen ohne Kontakt wieder. Es ist eine schwarze Instagram Story mit der Aufschrift: „Fünf meiner Freunde sind gestorben. Aber ich lebe noch.“ Eine normale Instagram Story seit dem 7. Oktober. Ich swipe weiter.
Der Alltag besteht aus Beiträgen von Angehörigen der Entführten, Vermisstenanzeigen, Beerdigungen. Meine Augen rasen die Todeslisten durch, mit der Angst, einen bekannten Namen zu erkennen. Diese Schicksale sind nun die neue Realität. Sie begleiten mich von Tag zu Tag.
Eine doppelte Tragödie
Wir Juden und Jüdinnen der Diaspora sind einer doppelten Tragödie ausgesetzt. Einerseits sind wir mit den Gedanken in Israel, bei unseren Familien und Freund:innen. Bei den herzzerreißenden Geschichten, die sich so nah anfühlen, unabhängig davon, wie die eigene Beziehung zu Israel ist. Es sind unsere Menschen.
Und doch wird uns nicht ermöglicht, zu trauern, zu verarbeiten. Denn andererseits müssen wir uns der verbalen und tätlichen Übergriffe in der Diaspora erwehren, die uns deutlich machen, dass wir auch hier bedroht werden.
Das Symbol der Demokratieproteste in Israel ist der Spruch „אין לי ארץ אחרת“ (Ich habe kein anderes Land). Ich war mir nie sicher, ob ich mich vollkommen mit diesem Spruch identifizieren kann, denn obwohl ich eine sehr enge Bindung zu Israel habe, ist es nicht mein einziges Land. Ich kann auf andere Orte zurückgreifen. Ich fühlte mich immer privilegiert, drei Heimatorte, ein dreifaches Zuhause zu haben – Berlin, Wien und Israel. Und obwohl Israel mich so erfüllt wie kein anderer Ort, fiel es mir oft schwer, dort eine Zukunft für mich zu sehen, vor allem aus ideologischen Gründen. Doch in Zeiten, wo wir Juden und Jüdinnen erneut erleben müssen, dass wir in der Diaspora kein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind, sondern in erster Linie doch „nur Juden“ bleiben, ändert sich meine Antwort.
אין לי ארץ אחרת
Ich habe kein anderes Land.
Wenn seit dem Hamas-Angriff auf Israel die Zahl antisemitischer Vorfälle in Österreich um 300% gestiegen sind, dann ist das ein Zeichen dafür, dass es hier keinen uneingeschränkten Platz für jüdisches Leben gibt. Jüdische Geschäfte werden wieder beschmiert und die israelische Flagge vom Stadttempel gerissen. Selbst tote Jüdinnen und Juden können nicht mehr in Frieden ruhen, ihre Gräber werden mit Hakenkreuzen versehrt. Zeitgleich zu der Gedenkkundgebung für die Ermordeten und Entführten des Terrors findet zehn Minuten Fußweg entfernt eine verbotene Anti-Israel-Demonstration statt. Unter Jubelrufen verteidigen die Demonstrierenden dort den Hamas-Angriff, rufen zu weiteren Morden auf und zeigen den Hitlergruß. Wir bei der Kundgebung hingegen werden gebeten uns zurückzunehmen, die Umgebung der Demonstration zu meiden, Israel-Flaggen einzustecken und jüdische Symbole abzunehmen. An meiner Universität werden jüdische Studierende dazu aufgefordert, an den Tagen, an denen Pro-Palästina Demos am Campus stattfinden, zu Hause zu bleiben. Unichats mit 800+ Mitgliedern verherrlichen den Hamas-Terror und sprechen davon, dass die feiernden Menschen beim Nova-Festival ihr Schicksal verdient hätten. Jüdische Studierende erhalten direkte Drohungen und werden aus Chatgruppen entfernt. Meine Davidstern-Kette bleibt nun verdeckt unter meinem Shirt. Sie ist zu einer Zielscheibe auf meiner Brust geworden. Mein Selbstbewusstsein, mit dem ich noch vor Kurzem über mein dreifaches Zuhause gesprochen habe, schwindet.
Das ist diese doppelte Realität. Mit der einen Hälfte in Israel, bei unserem Zuhause, das überfallen wurde. Mit der anderen in Wien, bei unserem anderen Zuhause welches uns nicht beschützt.
Alisa Offenberg