Israels politische Linke: Ein verblassendes Erbe und die Suche nach Erneuerung

Israels politische Linke:
Ein verblassendes Erbe und die Suche nach Erneuerung

Israels Anfänge sind tief verwurzelt mit dem linken, sozialistischen Zionismus. Ben Gurion, selbst einer der wichtigsten Vertreter der Jüdischen Arbeiterbewegung, gewann 1949 bei Israels ersten Wahlen 46 von 120 Sitzen in der Knesset, mit “Mapai”, einer demokratisch sozialistischen Partei. Den zweiten Platz errang damals die marxistisch-zionistische Partei “Mapam” mit 19 Plätzen. 73 Jahre später, bei den Knesset Wahlen im November 2022, brachte es “Avoda”, das heutige Gegenstück zu Mapai, auf 4 Sitze und hat somit den Einzug in die Knesset nur knapp geschafft, wohingegen “Meretz”, jene Partei, die aus Mapam hervorging, die 3,25% Sperrklausel erst gar nicht erreichen konnte. 

Damit bestätigte sich für die meisten ein Trend, der schon mehrere Jahre im Gange war. Der Untergang der israelischen Linken. Doch wie konnte es zu diesem Zerfall kommen?

Likuds Wahlsieg 1977

Als politischer Wendepunkt werden zumeist die Wahlen 1977 genannt, bei denen Menachem Begin mit “Likud” zum ersten Mal den ersten Platz erreichen konnte und eine Koalition mit der national-religiösen “Mafdal”, der Haredi Partei „Agudat Israel” und Ariel Sharon’s “Shlomtzion” einging. Likud versprach, das Land von den veralteten, kollektivistischen und autoritären Strukturen zu befreien und es in eine neue neoliberale, kapitalistische Richtung zu steuern. Doch vor allem ging es darum, den aschkenasisch dominierten linken Parteien die Vormachtstellung in der Gesellschaft zu entziehen. Der Sieg von Likud war ein symbolischer Sieg der Misrachi, die von Anfang an in der Vision Israels nicht als gleichgestellte Bürger inkludiert waren, und zwar gegenüber der aschkenasischen Oberschicht. Denn während europäisch stämmige Jüdinnen und Juden mit der Unterstützung ihrer sozialistischen Parteien sich in Kibbutzim ein sozialistisches Utopia aufbauen wollten, wurden Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern in den sogenannten “Ma’abarot”, den Flüchtlingslagern, unter schwersten Bedingungen untergebracht. Eine Wunde, die sich bis heute in der israelischen Gesellschaft verankert hat. 

Die Finanzkrise der 80er 

Als es dann 1983 zu einer Finanzkrise kam, die durch den Bankrott mehrerer israelischer Banken ausgelöst worden war, wurde gerade unter einer linken Regierung, geführt von Shimon Peres, ein Wirtschaftsplan eingeführt, der den Neoliberalismus in Israel institutionalisiert hatte. Der Sozialstaat wurde verkleinert, die Kibbutzim mussten sich größtenteils privatisieren und die Zukunft gehörte den Unternehmer:innen und Industriellen. Dieser Schritt der Linken in Israel zeigte, wie sie sich auch ideologisch von sich selbst immer weiter entfernt hatten. Die Tendenz, immer weiter ins Zentrum des politischen Spektrums zu rücken, führte vor allem dazu, dass die Parteien an Wert und Aussagekraft verloren und ihre Politik die Wählerschaft nicht mehr ansprach. Die israelische Gesellschaft fand keine Antworten in der Linken zu sozioökonomischen Fragen und verlor somit auch in diesem Aspekt jegliches Vertrauen.

Avoda und der Nahostkonflikt 

Doch natürlich unterliegen in Israel alle anderen Probleme und der politische Diskurs dem Nahostkonflikt. Auch wenn der Konflikt mit den Palästinenser:innen immer als komplex galt, war die Hoffnung auf einen Frieden erhalten geblieben. Historisch waren es oft Regierungen unter Avoda, die versuchten, Friedensgespräche voranzutreiben und die Besatzung von palästinensischen Gebieten zu beenden. Dieser Optimismus endete mit der Ermordung von Yitzhak Rabin im Jahr 1995 durch den Rechtsextremisten Yigal Amir. 

Doch vor allem die gescheiterten Friedensgespräche in Camp David II im Jahr 2000 unter Ehud Barak und die darauffolgende zweite Intifada erloschen die Aussicht auf Frieden unter den Israelis. Nach der zweiten Intifada wandten sich viele Avoda Wähler:innen zentristischen Parteien zu und ein Ende des Nahostkonflikts wurde mittlerweile als unrealistisch betrachtet. Heutzutage ist der Großteil der ehemaligen Wähler:innenschaft von Meretz und Avoda der Ansicht, den Status Quo der Besatzung in der Westbank und der praktisch kompletten Isolation Gazas von der Außenwelt zu erhalten und dabei so viele Verluste wie möglich zu vermeiden. Die Frage ist also nicht mehr, wie man den Konflikt beenden, sondern wie man ihn möglichst “human” weiterführen kann. 

Hadash und die Zukunft der Linken in Israel

Jetzt stellt sich eine Frage: Wenn es Avoda heutzutage weder schafft, sozioökonomische Probleme anzusprechen, noch eine Antwort auf den Nahostkonflikt zu finden – und Meretz seit der letzten Knesset nicht mehr im Parlament vertreten ist und damit de facto an jeglicher Relevanz verloren hat – wer vertritt noch linke politische Werte in Israel? 

Bei den ersten Knesset Wahlen 1949 erreichte “Maki”, die Kommunistische Partei Israels, 4 Sitze und war somit die drittstärkste Partei des linken Spektrums. Maki war ein Zusammenschluss aus arabischen und jüdischen Parteien, die sich als nicht zionistisch definierten, jedoch trotzdem den Staat Isreal anerkannten und sich für einen palästinensischen Staat in Übereinstimmung mit der UN Resolution einsetzten. Maki ist heute Teil der Union „Hadash“, die als gemeinsame Liste mit Ta’al, einer linkszentristischen Partei, fünf Sitze in der Knesset innehat.

Die arabische Gesellschaft in Israel hat eine reiche Tradition, die im Sozialismus verwurzelt ist und die es Hadash ermöglicht hat, eine starke Wähler:innenbasis zu erhalten. Die Fähigkeit dieser Partei, die jüdisch-arabische Zusammenarbeit in Israel zu fördern, wird von vielen als der realistischste Weg zur Lösung des Konflikts angesehen. Allerdings steht Hadash vor Herausforderungen, weil sich die palästinensische Gesellschaft zunehmend nationalistischen und religiösen Ideologien anschließt. Diese Verschiebung macht es für Hadash immer schwieriger, den Konflikt aus einer primär klassen-basierten Perspektive anzugehen.

Dennoch bleibt Hadash in einer Zeit, in der in Israel wöchentlich Massenproteste stattfinden, relevant und ist im Vergleich zu Avoda und Meretz stärker vertreten. In einem Klima, in dem der Aufstieg von Parteien wie Itamar Ben-Gvirs „Otzma Yehudit“, und Bezalel Smotrichs religiöser zionistischer Partei Bedenken hinsichtlich des Potenzials für Faschismus aufkommen lässt, sehen einige Hadash als eine beeindruckende Opposition. Als Teil und Hauptorganisator des “Blocks gegen die Besatzung”, ist Hadash auf den Demonstrationen stark vertreten und schafft es, mit einer positiven Aussicht auf die Zukunft und Hoffnung auf Frieden, zahlreiche Menschen zu mobilisieren. Darüber hinaus ist Hadash die einzige Partei, die gesellschaftspolitische Themen effektiv aus einer linken Perspektive angeht.

Trotz ihres Einflusses ist Hadash eine relativ kleine Partei mit nur fünf Sitzen, von denen einer Ta‘al zugeteilt wird. Doch möglicherweise könnte Hadash ein Wegweiser für die Zukunft der israelischen Linken sein.

Die Ära der zionistischen Linksparteien scheint sich ihrem Ende zu nähern, doch ihre ursprüngliche Vision für Israel bleibt eine dauerhafte Inspirationsquelle – ein Ideal, nach dem man streben kann. Angesichts der anhaltenden Herausforderungen kann die Linke Antworten finden, indem sie eine neue und integrative Vision für Israel annimmt. In einer Zeit, in der sich ein wachsender Teil der israelischen Gesellschaft an der Diskussion über den Postzionismus beteiligt und sich vom engstirnigen Nationalismus löst, besteht die Möglichkeit, einen Weg zu finden, der auf Frieden, Solidarität und Gleichheit ausgerichtet ist. Durch die Übernahme dieser Werte kann die Linke einen Kurs festlegen, der bei einem breiteren Spektrum der Bevölkerung Anklang findet, und auf die sich entwickelnden Bedürfnisse der israelischen Gesellschaft eingeht.

Daniel Wanne

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