„Na, was sagst du zu Israel?“
Wie stehst du zu Israel/Palästina beziehungsweise dem Nahostkonflikt? Wieso tötet ihr palästinensische Kinder? Wieso tut ihr Palästinenser:innen das an, was die Nazis euch angetan haben? Wieso hasst ihr Palästinenser:innen so sehr?
Seit sechs Jahren bin ich Likratina. Im Namen des Projekts Likrat (hebräisch für „aufeinander zugehen“) der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, gehe ich österreichweit in Schulen und Bildungseinrichtungen und führe mit Schüler:innen einen Dialog über die oben genannten Fragen – und über mein Judentum. Nach einer Ausbildung in den Bereichen Religion, Kultur, Politik und Rhetorik werden wir als Vertreter:innen der jungen jüdischen Gemeinde Wiens in Begegnungen geschickt, in denen meiner Erfahrung nach 99% der Personen noch nie eine Jüdin oder einen Juden getroffen haben. Meine Aufgabe hierbei ist es nicht, einen Vortrag über das Judentum zu halten. Vielmehr führe ich mit Jugendlichen – meistens im selben Alter – ein Gespräch auf Augenhöhe, in dem sie alle Fragen stellen können, die sie möchten.
Ob bei Likrat oder im privaten Leben, sehr oft bekomme ich Fragen zum Nahostkonflikt. Fragende Personen erwarten eine ausgeprägte, objektive Meinung von mir. Meistens, dass ich Israel in allen Anklagepunkten rechtfertigen werde. Als Jüdin werde ich automatisch in die Rolle der israelischen Botschafterin gedrängt, unabhängig davon, ob ich meine Meinung kundgeben will oder dies bereits getan habe. Wieso werden junge Jüdinnen und Juden automatisch in die Rolle der Kenner:innen und Verteidiger:innen gesteckt? Wieso geht die Allgemeinheit davon aus, dass alle Jüdinnen und Juden sämtliche Handlungen verteidigen werden? Dass wir alle Israel-Expert:innen sind?
Viele lehnen diese Rolle ab. Ich habe mich zuerst auch gefragt, wie ich reagieren sollte und möchte. Wähle ich dort? Nein. Habe ich die israelische Staatsbürgerschaft? Nein. Habe ich bald vor, Alija zu machen (die Staatsbürgerschaft zu erlangen/auszuwandern)? Nein. Die Rolle der Botschafterin abzulehnen, wäre daher komplett legitim. Viele Jüdinnen und Juden haben einen starken persönlichen Bezug zu Israel und manche eben nicht.
In der Diskussion muss man das Existenzrecht Israels und dessen Politik auseinanderhalten. Es scheint mir unvorstellbar, dass Jüdinnen und Juden das Existenzrecht Israels anzweifeln oder ihm gleichgültig gegenüberstehen. Durch das breite Spektrum an jüdischen Identitäten, abhängig von der Herkunft, der Verbindung zur Shoah und der Erziehung entstehen jedoch unterschiedliche Zugänge. Viele haben ein Gefühl der Zugehörigkeit, Teil eines Volkes zu sein, welches sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzt: Jüdinnen und Juden in der Diaspora und in Israel, praktizierende religiöse Menschen und Personen, die wenig vom Judentum ihrer Eltern mitbekommen haben. Wenn man von der israelischen Politik spricht, sind die Meinungen vielschichtig. Es gibt sowohl Befürworter:innen als auch Kritiker:innen. Sehr viele Menschen, mich eingeschlossen, üben scharfe Kritik an Israels Politik aus – verstärkt durch die jetzige Lage. Es gibt jedoch auch Jüdinnen und Juden, die sich mit der Politik entweder nicht auskennen oder über diese nicht diskutieren möchten. Fälle, in denen sie nicht auf die Thematik eingehen wollen oder einen neutralen Stand haben. Und das macht sie kein Stück weniger jüdisch.
Ich konnte für eine lange Zeit viele Fragen nicht beantworten. Ich wusste nicht Bescheid, ich hatte mich nicht damit beschäftigt, am neuesten Stand zu bleiben. Heute noch bin ich weit davon entfernt, eine Expertin für den Nahostkonflikt zu sein. Jedoch empfinde ich eine gewisse Verantwortung gegenüber dem jungen Staat. Das hat seinen Ursprung nicht in meinem politischen Engagement. Erst als ich von außen in die Rolle der Botschafterin gedrängt wurde, wollte ich ihr gerecht werden und manch andere Frage auch für mich beantwortet haben.
Ich verteidige das Land nicht aufgrund der Party-Destinationen, der boomenden IT-Branche oder der bemerkenswerten Erfolge im Bereich der Medizin und Forschung. Ich verteidige das Land Israel vor allem, um den Zufluchtsort aufrecht erhalten zu können; aus Angst vor dem wachsenden Antisemitismus, den Rückkehrort aller Jüdinnen und Juden in der Diaspora zu schützen, vertreten und zu erhalten.
Diese Begegnungen können auf Wiener Schulen und in meinem privaten Leben ganz anders ausschauen. Es gibt die, die gar keinen Informationsaustausch zulassen wollen, sondern lediglich ihrem Hass und ihrer Wut freien Lauf lassen, mit denen man kein fruchtbares Gespräch führen kann, und diejenigen, die ehrlich wissen wollen, was in Israel vor sich geht. Es ist sehr schwer, eine objektive und ausgeprägte Meinung über einen Konflikt zu haben, an dem man selbst nicht beteiligt ist, der über zweitausend Kilometer weit entfernt ist und schon weitaus älter ist als man selbst. Informationsquellen zu prüfen und sich nicht nur mit der Ansicht einer Seite auseinanderzusetzen, wäre ein erster Schritt. Schlussendlich suchen wir bloß alle den Weg zu einem friedvollen Miteinander.
Jessica Jael Winkelbauer