PeaceCamp: Nahostkonflikt in den Alpen
Das Peacecamp ist ein österreichisches Projekt, das 2004 von Evelyn Böhmer-Laufer mit tatkräftiger Unterstützung ihres Mannes Ronny Böhmer ins Leben gerufen wurde. Seit 19 Jahren veranstalten sie jeden Sommer ein Ferienlager in Lackenhof am Ötscher, Niederösterreich, für österreichische, ungarische, jüdisch-israelische und palästinensisch-israelische Jugendliche und laden mit dem Ziel ein, gemeinsam Frieden zu schließen. Insgesamt sind es 32 Jugendliche, 8 aus jeder Delegation. Die Peacecamps der letzten Jahre wurden aufgezeichnet und zu einem Film zusammengeschnitten, der beim Jüdischen Filmfestival Ende April vorgeführt wurde.
Ich bin 2019 mit der österreichischen Delegation mitgereist – spätestens zwei Stunden nach der Ankunft hat bereits meine Identitätskrise begonnen. Meine Familie kommt aus Ungarn. Meine Muttersprache ist Ungarisch. Ich bin in Österreich geboren und habe die österreichische Staatsbürgerschaft. Ich bin jüdisch, und war mein ganzes Leben in einer streng jüdischen Schule, wo ich auch Hebräisch gelernt habe. Somit konnte ich, bis auf Arabisch, jede Sprache dort sprechen.
Die arabischen Jugendlichen betrachteten mich misstrauisch. Hier versuche ich nicht, Gedanken zu lesen, sondern sie haben es mir oft genug ins Gesicht gesagt. Mal dachten sie, meine Anwesenheit im Camp war ein Plot Twist, der von den Veranstaltern eingefädelt worden sei, um noch mehr Spannung und Komplexität in die Sache zu bringen, doch eigentlich war ich eine normale Teilnehmerin. Ich gehörte einfach überall hin. Und gleichzeitig irgendwie nirgendwo.
Meine Identitätskrise hat nicht lange angehalten. Irgendwann verstand ich, dass ich dadurch einen ganz und gar einzigartigen Zugang zu jeder Delegation hatte und zwischen den Meinungen vermitteln konnte, wie sonst niemand anderes. Nirgendwo richtig dazu gehören bedeutete auch, dass ich wie eine unparteiische Diplomatin alle an einen Tisch holen konnte und ein Gespräch anfangen konnte.
Shakshuka-Konflikt
Ich würde gerne erzählen, dass alle 32 Jugendlichen sich von der ersten Minute an gut verstanden haben und erwachsene, ehrliche Konversationen über die weltpolitische Lage führen konnten. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein. Es wurde viel geschrien, geweint und geschimpft. Immer wieder weigerten sich Personen, sich zu unterhalten, geschweige denn an einem Tisch zu essen. Eine überraschend wütende Diskussion löste der israelische Culture Evening aus. Die Frage, ob Shakshuka ein israelisches oder palästinensisches Nationalgericht war, spaltete die Gruppen.
Immer wieder wurden dieselben Sätze wiederholt. „Ihr nehmt uns unser Land weg“, „ihr bringt unsere Bevölkerung um“, und egal, wie oft die tatsächlichen Erwachsenen im Raum uns darauf hingewiesen haben, dass keiner von uns je eine Waffe in der Hand gehalten hatte, geschweige denn höchstpersönlich einen Staat gegründet, hielt es niemanden davon ab, weiterhin die Wörter „Ihr“ und „Wir“ zu benutzen. Die ungeschriebene Regel war: Du stehst auf deiner Seite und ich stehe auf meiner Seite, und wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns.
Um die Argumente in diesen Diskussionen zu unterstützen, wurde die vertrauenswürdigste Quelle aller vertrauenswürdigen Quellen herangezogen: die sozialen Medien. Videos von Terroranschlägen und von Soldat:innen des israelischen Militärs, meist unscharf und ohne Datum oder Ortsangabe verbreiteten sich mit rasanter Geschwindigkeit unter den Jugendlichen. Die sorgfältig aufgebaute Filterblase der sozialen Medien, die uns auf unserem Feed immer nur den Inhalt vorschlägt, den wir sowieso vertreten, ist geplatzt. Aber zum ersten Mal hinterfragten alle gemeinsam im Raum, ob die Narrativen, mit denen wir aufgewachsen sind, tatsächlich die Wahrheit über den Nahen Osten widerspiegelten. Zum ersten Mal waren alle gezwungen sich gegenseitig zuzuhören. Die Türen waren zwar nicht verschlossen aber rausgehen durfte man auch nicht. Und wenn ich eines in diesen 10 Tagen gelernt habe, dann das: Wir können alle nicht zuhören. Wir können aufmerksam einer anderen Person gegenüber sitzen und die Wörter registrieren, die sie sagt, wir können um die Welt reisen und beobachten, wie andere Menschen leben, wir können recherchieren und das Internet durchforsten, aber wir können nicht zuhören.
Irgendwann ließ die Feindseligkeit nach. Die Regel, dass in jedem Zimmer nur eine Person von jeder Delegation schlafen darf, in meinem Zimmer also eine Ungarin, ein arabisches Mädchen und ein jüdisches aus Israel, hat wesentlich dazu beigetragen. Wir sprachen über konkrete Probleme, zum Beispiel den Mangel an Arabischunterricht an israelischen Schulen oder die Unterstützung vieler Palästinenser:innen der Terrororganisation Hamas. Das Wort „Coexsistence“ tauchte magischerweise auf und verschwand nie wieder. Alle waren wie besessen von der Idee einer „Coexsistence“ von Jüdinnen und Juden und Palästinenser:innen, aber niemand konnte wirklich formulieren, wie das tatsächlich aussehen sollte. Wie denn auch?
Wir sind keine Politiker:innen, Jurist:innen, oder Wissenschaftler:innen. Aber wie man so schön sagt, der Wille zählt. Und nach dem Streit über Shakshuka hat sich das wie ein riesiger Schritt in die richtige Richtung angefühlt.
So sehr ich es mir auch wünsche, Projekte wie das Peacecamp werden den Nahostkonflikt nicht lösen. Frieden im Nahen Osten wird es nur geben, wenn der politische Wille der Amtsinhaber:innen dazu vorhanden und die völkerrechtlichen Verträge dazu abgeschlossen werden. Aber dauerhaft wird der Frieden nur, wenn die Bevölkerung sich nicht mehr voneinander bedroht fühlt, ihre kulturellen Identitäten bewahren kann und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einstehen. Damit wird diese Generation anfangen.
Nicht alle unsere Gespräche drehten sich um den Nahostkonflikt. Wir sprachen über die Roma und Sinti Gemeinden in Ungarn, Pressefreiheit, die Aufarbeitung des Holocausts im österreichischen Bildungssystem, Sprachbarrieren in Europa und das Thema, wo wir uns ausnahmsweise alle einig waren, wofür wir der lebende Beweis sind: das Missverständnis, dass die junge Generation unpolitisch ist.
Das Peacecamp findet nach einer zweijährigen coronabedingten Pause heuer wieder statt und endet mit einer Aufführung unter dem Titel “Show for Peace” am 12. Juli 2023 im Dschungel Wien.
Esther Györi