Rabin, Netanyahu und der
Friedensprozess: Ein Interview mit Tom Segev
„Ich bin Tom Segev, 1945 in Jerusalem geboren. Ich war viele Jahre Journalist und wurde dann Historiker. Mein jüngstes Buch heißt „Jerusalem Ecke Berlin: Erinnerungen“ und ist gerade vor einigen Monaten in Deutschland erschienen.“
NOODNIK: Lieber Tom, zuerst einmal vielen Dank von mir und der gesamten Redaktion des Noodniks, dass du uns dieses Interview gibst. Ich würde gerne mit dir über die Situation in Israel während der 1990er Jahre sprechen, im Besonderen über Yitzhak Rabins Politik im Palästina-Konflikt. Könntest du vielleicht mal unseren Leserinnen und Lesern erklären, was denn damals genau die Situation war und wie es dazu gekommen ist?
Tom Segev: Es war damals nicht sehr viel anders als heute. Man glaubte damals, dass es eine Lösung für den Palästina-Konflikt gab. Heute ist das nicht mehr so und ich glaube auch nicht mehr daran. Auch Rabin und Peres glaubten nicht wirklich daran, aber durch außenpolitischen Druck, vor allem aus Amerika, unterschrieben sie dann in Oslo und so kam es zum Peace-Process. Wenn ich all das aber heute höre, klingt es für mich wie eine antike Geschichte. Beide Seiten glauben nicht mehr an eine Lösung dieses Konflikts, da es ein Konflikt zweier nationaler Identitäten ist, welche sich beide durch das ganze Land definieren, weshalb sie beide nicht dazu bereit sind, auf einen Kompromiss einzugehen.
N: Nachdem du es bereits kurz erwähnt hast, würde ich dich gerne nochmals ein bisschen ausführlicher fragen, was denn die größten Parallelen oder auch Unterschiede zwischen der Situation damals und heute sind?
TS: Das Interessante ist, dass bei den Protesten heute kaum von den Palästinenser:innen gesprochen wird. Im Moment handelt es sich um einen Versuch, die israelische Demokratie zu retten, die noch immer in Gefahr ist. Die Demonstrationen damals, für und gegen Oslo sowie zum Friedensprozess handelten ausschließlich von Israels Zukunft und ihrer Beziehung zu Palästina, was das Hauptproblem Israels ist. Daher ist es auch interessant, dass die Demonstrationen heute sich mit der Situation in den besetzten Gebieten überhaupt nicht beschäftigen. Das ist auch eine der größten politischen Errungenschaften Netanyahus. Er hat es geschafft, die israelische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die palästinensische Situation unter Kontrolle ist. Es bedarf im Moment keiner großen Entscheidungen in dieser Hinsicht, was für den Großteil der israelischen Bevölkerung sehr bequem ist. Wenn man die durchaus interessante und auch dramatische politische Karriere Netanyahus analysiert und sich fragt, wieso er immer wieder gewählt wird, ist das sicherlich ein wichtiger Punkt.
N: Wenn wir jetzt schon bei Netanyahu sind, welche Rolle spielte er damals in den 1990er Jahren während den Protesten?
TS: Netanyahus Rolle war eine der sehr heftigen Hetze gegenüber Rabin und allem, was er tat. Es gab einen berühmten Abend in Jerusalem, wo Netanyahu mit anderen Personen auf einem Balkon stand, und eine Rede hielt, während in der Menge Menschen waren, die Plakate mit Rabin in SS-Uniform hoch hielten. Noch bis heute gibt sich Netanyahu Mühe, bei jeder Gelegenheit zu erwähnen, dass er dies nicht gesehen haben konnte. Er war also ein Teil einer Hetzkampagne, die weit über jegliche rationalen und strategischen Überlegungen hinausging. Wie es so oft in Israel der Fall ist, wurde es zu einem emotional-aufgeladenen Konflikt, was eigentlich in einer gut geführten Gesellschaft nicht der Fall sein sollte.
N: Könnte man sagen, dass die Legitimierung dieser Hetze durch Netanyahu zu einem Klima beigetragen hat, welche die Ermordung Rabins durch einen israelischen Bürger ermöglichte?
TS: Ich will nicht so weit gehen. Das ist ein übliches Argument, aber wir wissen heute ganz genau, dass der Mörder aus einer sehr kleinen radikalen Gruppierung kam, die auch von einigen rechtsextremen, nationalistischen und auch rassistischen Rabbinern geführt wurde. Das passt nicht wirklich zu Netanyahu. Er ist mehr konservativ-liberal. Diese fürchterlichen Minister:innen, die ihn jetzt unterstützen und von denen er auch abhängig ist, führen zu einer Regierung, welche extrem nationalistisch und rassistisch ist und die es in so einer Konstellation bis jetzt noch nie gab. Das ist aber weder seine Lebensauffassung, noch seine Weltanschauung. Netanyahu denkt und schaut sehr viel nach außen, vor allem nach Amerika. Ich glaube, dass der Geist, der den Mörder von Rabin zu seiner Tat bewegt hat, nicht derselbe ist wie der von Netanyahu.
N: Wie hat Netanyahu damals auf die Ermordung von Rabin reagiert?
TS: Ich weiß es im Moment nicht mehr so genau, aber ziemlich sicher, so wie es richtig war zu reagieren. Er wird seine Erschütterung ausgesprochen haben, so wie alle anderen auch, aber den genauen Wortlaut habe ich jetzt nicht vor mir. Er hat jetzt nicht deswegen seine Auffassung im Palästina-Konflikt geändert und plötzlich Rabin recht gegeben. Rabin mochte vielleicht nicht richtig gelegen haben mit seinen Ansichten zu diesem Konflikt, aber es war mit Sicherheit schlimm und verbrecherisch ihn deswegen zu erschießen.
N: Wie siehst du das Vermächtnis von Rabin und seiner Politik?
TS: Es ist wirklich interessant zu sehen, wie viele Leute denken, dass die Ermordung von Rabin den Frieden verhindert hat. Ich erinnere immer daran, dass Rabin ermordet wurde, bevor er die wirklich schmerzhaften Beschlüsse machen musste. Bevor er weitere Oslo-Verträge unterschreiben musste. Wir wissen also gar nicht wohin er diesen Prozess geführt hätte, wohin er diese Prozess hätte führen können und ich habe auch schon manchmal gedacht, dass der Mord an Rabin im Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser:innen nur sehr wenig verändert hat. Aber das sehe ich auch erst heute im Rückblick. Allerdings glaube ich auch, dass es damals schon nicht möglich war. Die Zwei-Staaten Lösung war nicht real.
Interview: Rouven Margules