Der halachische Status von Abtreibung
Abtreibung ist in vielen Ländern, Gesellschaften und Gemeinden ein Thema, welches viele Diskussionen auslöst und als kontrovers wahrgenommen wird. Dieselben Diskussionen finden selbstverständlich auch innerhalb verschiedener jüdischer Gemeinden auf der ganzen Welt statt und sehen je nach Land und Demographie teilweise sehr unterschiedlich aus. Als orthodoxe Feministin kann ich mir natürlich nicht verkneifen, meinen eigenen Senf dazuzugeben. Wir orthodoxe Jüdinnen und Juden leben nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz. Für orthodoxe Frauen ist es dementsprechend von höchster Bedeutung, was die Halacha zum Thema Abtreibung zu berichten hat. Wenn es erlaubt ist, dann ist ja alles in Butter. Wenn nicht, dann haben wir wahrscheinlich ein Problem. Ich bin dieser Frage nachgegangen und nach langer, intensiver Recherche kam ich zu dem Schluss: Es ist ambivalent. Beispielhaft dafür, dass es keine einheitliche Antwort auf diese Frage gibt, ist die folgende Sammlung an Argumenten, die ich aus der halachischen Literatur aufgegriffen habe:
Das grundlegende halachische Prinzip, das Abtreibungspraktiken regelt, kommt aus der Mischna, Oholot 7:6, und besagt, dass wenn „harte Wehen“ das Leben der Mutter gefährden, eine Embryotomie durchgeführt werden kann, d. h. der Embryo zerstückelt werden kann, um die Geburt zu erleichtern: „[…] for her [the mother’s] life has priority over its [the fetus’] life.“ Nahezu alle Autoritäten stimmen darin überein, dass die Mischna nicht nur die Unterordnung des Lebens des Fötus unter dem der Mutter vorschreibt, sondern es auch für zwingend erachtet, dies zu tun. In der anschließenden talmudischen Diskussion in Sanhedrin 72b wird das Kind als ein „Rodef“ (Angreifer oder Verfolger) benannt, der gezielt seine Mutter „verfolgt“. Bitte nicht wortwörtlich nehmen, denn Raschi erklärt, dass in diesem Rahmen der Fötus „geopfert“ werden kann, um das Leben der Mutter zu schonen. Denn obwohl der Fötus einen Anspruch auf Leben hat und menschlich genug ist, um seine Zerstörung als moralisch fragwürdig darzustellen, ist weder dieser Anspruch noch sein Status als ein Menschenleben dem der Mutter gleichgestellt: „As long as it [the fetus] has not emerged into the light of the world, it is not a human life.“ Ein weiterer Gelehrter namens R. Chisda bezeichnet einen Embryo bis zum vierzigsten Tag der Schwangerschaft als „bloßes Wasser“. Diese Aussage weist darauf hin, dass die Entwicklung des Fötus innerhalb der ersten vierzig Tage der Schwangerschaft nicht ausreicht, um in den Augen der Halacha eine unabhängige Stellung zu rechtfertigen. R. Moshe Yonah Zweig aus Antwerpen aber verbietet Abtreibungen auch während der ersten vierzig Tage der Schwangerschaft, außer aus medizinischen Gründen. R. Yechezkel Landau stellt ebenso fest, dass die Tötung eines Fötus zwar keine Tötungshandlung darstellt, aber dennoch eine Straftat ist. R. Chaim Ozer und R. Weinberg behaupten, dass eine Schwangerschaft, die eine bereits bestehende Erkrankung verschlimmert und dadurch das Leben der Mutter gefährdet, keinen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch darstellt. In diesen Fällen kann der Fötus nicht als Aggressor angesehen werden, da das Leben der Mutter durch die Krankheit gefährdet ist.
Wir könnten uns jetzt darüber streiten, ob das, was jüdische Gelehrte zum Thema Abtreibung zu sagen haben, unterstützend ist oder nicht. Als ich mich in die Materie hineingelesen habe, ist mir etwas aufgefallen: Es scheint an keiner Stelle eine einzige Frau gegeben zu haben, die ihren Input gab. Es sind ausschließlich Männer, die darüber bestimmen, ob Frauen Schwangerschaftsabbrüche haben dürfen oder nicht. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich überrascht bin. Denn das orthodox-jüdische Gelehrtentum wurde fast schon immer ausschließlich von Männern getragen und wir Frauen hatten die Anweisung, im Hintergrund zu bleiben. Männer haben ein Monopol über halachische Entscheidungen und Frauen haben weder die Berechtigung noch die Bildung, sich selbst in die Entscheidungsprozesse hineinzubringen. Wir sollten uns als Gemeinde anfangen zu fragen, was die Konsequenzen dieses Status quo sind.
Avital Chizhik-Goldschmidt ist eine Rebbetzin und Journalistin aus New York und setzt sich offen für Frauenrechte in der orthodoxen Welt ein. In ihrem Artikel im The Forward aus dem Jahr 2018 veröffentlichte sie die anonymen Geschichten von orthodoxen Frauen, die abgetrieben haben. Die Geschichten sind herzzerreißend und die Frauen hinter ihnen gesichtslos, denn in den Gemeinden, in denen sie leben, unabhängig davon, ob in New York oder Jerusalem, ist das Stigma zu stark und die Scham zu groß. Denn wie auch immer wir die halachischen Argumente interpretieren, für viele
hoch angesehene Rabbiner, die an den Spitzen ihrer Gemeinden stehen und den Ton dort angeben ist Abtreibung keine halachische Frage, sondern eine politische. Öffentliche Äußerungen, die Abtreibung dämonisieren, sind keine Seltenheit. Ist es dann überraschend, dass Frauen sich nicht einmal trauen, ihren eigenen Familien und Freund:innen zu berichten, dass sie abgetrieben haben? In den Worten der Rebbetzin: „There is a story of two layers here: There is an official story, of rigid policy, a community that is publicly anti-abortion-rights. And there is a secret one. […] Among religious women, in private conversations, it is common knowledge which Orthodox rabbis rule sensitively on pregnancy and medical ethics. […] Their names are kept private, passed around from woman to woman; a local rabbi or rebbetzin may discreetly forward a [halachic decisor’s] phone number to a desperate congregant.“
Schließlich ist die Realität eine, in der Frauen im Stillen leiden müssen. Abtreibungen sind nie einfach, aber eine unterschtützende Gemeinde zu haben, die verlässlich ist, kann einen großen Unterschied machen. Stattdessen haben Frauen keine andere Wahl, als den Prozess alleine durchzustehen und nie auch nur ein Wort darüber zu murmeln. Ich kann mich nur fragen, was wohl wäre, wenn Frauen einen Platz am Tisch hätten und unsere Communitys gleichermaßen mitgestalten könnten, wie Männer es tun.
Ich bin stolz darauf, Teil einer Generation jüdischer Frauen zu sein, die nicht länger akzeptieren will, dass man uns aus dem Diskurs raushält. Wir erheben unsere Stimmen, erzählen unsere Geschichten und bringen unsere Perspektiven ein, und dafür brauchen wir niemandes Erlaubnis. Denn das Judentum ist nicht nachhaltig, wenn Frauen nicht gleichberechtigt an ihm beteiligt sind.
Esti Rubins