„Wir brauchen mehr junge Menschen, die laut und unbequem sind“

„Wir brauchen mehr junge
menschen, die laut und
unbequem sind“

Mit Avital, der (Stand 2023: ehemaligen) Präsidentin der European Union of Jewish Students (EUJS) und einer leidenschaftlichen Aktivistin, sprechen wir über intersektionale Identitäten, den Mut, Judentum mitzugestalten und Visionen für jüdische Räume.

NOODNIK: An unsere Leser:innen, die dich noch nicht kennen, magst du dich kurz vorstellen?

Avital Grinberg: Ich bin Avital Grinberg, 27 Jahre alt, komme ursprünglich aus Berlin und lebe jetzt in Brüssel. Ich bin die Tochter einer post-sowjetischen alleinerziehenden Mutter und bin teilweise in der Jewish Bubble groß geworden, teilweise nicht. Reingerutscht in die Gemeinde bin ich durch den interreligiösen Dialog, wo ich auch das erste Mal auf die Probleme aufmerksam wurde, die wir innerhalb der jüdischen Community haben. Als Schülerin wurde ich Teil klassischer jüdischer Initiativen, wobei ich immer fand, dass ich da nicht so gut reingepasst habe. Es hat viel in mir provoziert, so dass ich mich schließlich dazu entschied, Madricha (Betreuerin) im Jugendzentrum zu werden, um dem nachzugehen und Veränderung zu bewirken. Die jüdische Jugendarbeit war für mich das Sprungbrett zum Aktivismus und auch der Weg ins Politische.

Außerdem war ich im Vorstand der Jüdischen Studierenden Union Deutschland (JSUD) und der World Union of Jewish Students (WUJS). Das war sehr prägend für mich, weil ich zum ersten Mal Feminismus ausleben und Themen, die mir wichtig waren, wie Inklusion und Queer Rights, bespielen konnte. Vor allem im jüdischen Raum hat mir das damals sehr gefehlt.

N: Du bist die Präsidentin der European Union of Jewish Students (EUJS). Magst du uns erzählen, was die EUJS macht und was deine Aufgaben als Präsidentin sind? 

AG: Die EUJS ist der Dachverband von 36 nationalen Studierendenunionen und arbeitet in zwei Richtungen. Zum einen hat sie das Ziel, ein junges jüdisches Narrativ in die EU-Politik zu bringen, deshalb sitzen wir auch in Brüssel. Wir sind Partner der Europäischen Kommission und pflegen starke Partnerschaften mit allen möglichen europäischen Dachverbänden und europäischen Institutionen. Auf der anderen Seite wollen wir politische Bildung in jüdische Räume und vor allem zu jungen Jüdinnen und Juden bringen. Da geht es darum, zu schauen, was gesellschaftlich relevant ist und wie man das in einen jüdischen Kontext integrieren kann. Unser Ziel ist es, ein pulsierendes und nachhaltiges jüdisches Leben zu etablieren und unsere Organisation pluralistisch, inklusiv und parteiübergreifend zu gestalten. Wir wollen sicherstellen, dass junges jüdisches  Leben zu einer europäischen Identität beiträgt und in Europa sichtbar ist. Wir machen das durch Bildungsprogramme, aber auch durch Aktivismus und Advocacy-Arbeit.

Meine Aufgabe ist es dabei, die politische Richtung vorzugeben, die politische Strategie anzuleiten und die Organisation nach außen zu repräsentieren. Das mache ich natürlich nicht alleine. Ich habe ein fantastisches Team in Brüssel, das sehr viel leistet, und auch einen Vorstand. Und während der Geschäftsführer sicherstellt, dass das Büro, das Tagesgeschäft funktioniert und EUJS finanziell abgesichert ist, bin ich zuständig für die Arbeit mit den Partnerorganisationen und die strategischen sowie politischen Fragen.

N: Welche Bedeutung hat es für dich, als Frau an der Spitze einer solchen Organisation zu stehen? Sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinde, als auch außerhalb, zum Beispiel auf EU-Ebene?

AG: Es ist sehr aufregend und macht viel Spaß – ist aber auch viel harte Arbeit. Es ist ein sehr vielseitiges Pflaster, weil ich zum einen mit freiwilligen Studierenden arbeite, die in ihrem Aktivismus anfangen, für die es ihr erster Job ist oder die gerade erst aus der Schule raus sind. Auf der anderen Seite bin ich in Kontakt mit Leuten aus der Kommission und Abgeordneten des EU-Parlaments. Das muss ich irgendwie in meinem Umgang und meinem Führungsstil vereinen. Es gab schon viele tolle Präsidentinnen in jüdischen Jugend- und Studierendenorganisationen, aber mir fehlte immer eine Frau, die einerseits down to earth ist und andererseits wirklich durchpowern kann, die authentisch, zugänglich und mutig ist. Das waren Teile meiner Vision von Leadership, die ich gerne in die Präsidentschaft einbringen wollte. Diesen Weg zu gehen ist aber natürlich nicht leicht. Sowohl in politischen Räumen als auch innerhalb der Gemeinde bin ich oft entweder die auserwählte junge Person oder die auserwählte Frau oder schlimmstenfalls beides – und dann wird’s hart. Dann merke ich auf unangenehme Weise, wie sich die Intersektion von Ageism, Sexismus und Antifeminismus auswirkt.

N: In dem EUJS Podcast „LowDown“ hast du mit der ehemaligen EUJS Präsidentin, Alina Bricman, darüber gesprochen, wie wichtig die Thematisierung von Menschen in Führungspositionen ist, die weiblich und jüdisch sind und einen Migrationshintergrund haben. Inwiefern würdest du sagen, dass dieses Zusammenspiel die EUJS prägt, auch in ihrer Wirkung nach außen?

AG: Ich glaube, das führt zum einen zur Nahbarkeit, etwas, das mir auch ganz oft gefehlt hat. Mir hat es gefehlt, dass jemand für eine Mehrheit spricht. Wenn wir nach Deutschland schauen, wo 95 Prozent der Gemeindemitglieder einen sowjetischen Hintergrund haben, aber die meisten Führungspositionen in den Gemeinden von Leuten ohne Migrationshintergrund besetzt werden, ist das frustrierend. 

Außerdem fehlt mir in dem politischen Diskurs die Reflexion, ob alles, was wir erleben, wirklich Antisemitismus ist. Oder richtet sich der Hass vielleicht gegen bestimmte Kulturen oder ist es schlicht und einfach Xenophobie? Das sind Debatten, die wir in manchen Ländern gut voranbringen, in anderen ist das aber noch nicht der Fall. Ich finde es wichtig, die Thematisierung dieser Intersektion auf europäischer Ebene voranzutreiben. 

Auch die EUJS, die ein total progressiver Ort ist, hat in der Vergangenheit mehr männliche Präsidenten gehabt als weibliche. So muss auch sie von vielen Strukturen befreit werden. Genauso wie es innerhalb der Organisation diese Herausforderungen gibt, bestehen sie erst recht auch nach außen.

N: Jetzt haben wir viel über die strukturelle Ebene gesprochen. Wie ist es für dich persönlich, dass du als Frau in dieser Führungsposition bist? Du sprichst ja auch im Podcast über das Motto “Claim your Space”. Was hat dir dabei geholfen, diesen Space für dich zu claimen?

AG: Ich glaube, ein richtiges Rezept dafür gibt es nicht. Es hat sehr viel Zeit und Überwindung gekostet. In dem Podcast haben Alina und ich darüber gesprochen, dass wir beide vor unserer Kandidatur ein Jahr im Büro gearbeitet haben. Und dass wir vergleichsweise älter in diese Position gekommen sind als viele unserer männlichen Vorgänger. Ich denke, dass viele Frauen noch mehr Zuspruch und Sicherheit brauchen in ihrer Qualifikation – und das ist etwas, was oft mit der Zeit, mit einem richtigen sozialen Umkreis, Therapie und anderen Wegen, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, kommen kann. 

Aber nichts fällt vom Himmel. Es gibt immer noch oft Momente, in denen ich mich krass zusammenreißen muss und mir zurede, dass ich das schaffen kann, aus gutem  Grund in dieser Position bin und niemand mir erzählen muss, wie ich meinen Job zu machen hab. Also da gehört auch ein bisschen Manifestation dazu. 

N: Würdest du sagen, Feminismus unterscheidet sich im jüdischen Kontext? Gibt es vielleicht sogar so etwas wie jüdischen Feminismus?

AG: Oh, auf jeden Fall. Tatsächlich fing eine meiner größten Krisen in der Jugendarbeit mit dem Feminismus an. Mich haben die Strukturen der Organisation, die sehr männerzentriert waren, total genervt. Sehr intensiv habe ich dann angefangen, mich mit dem Thema Judentum und Gender auseinanderzusetzen. Inwiefern Halacha diskriminierend gegenüber der Frau ist und was Auslegungssache ist. Es war für mich schwer, freie demokratische gesellschaftliche Werte in der jüdischen Religion wiederzufinden, da genau sie die Baustellen im Judentum sind. Ich finde es immer schwierig, wenn man selbstbewusst jüdisch ist, ohne das Verständnis dafür, was es beinhaltet. Das ist für mich leere Identitätspolitik, sich stolz jüdisch zu zeigen, aber dann kein Wissen darüber zu haben. Deshalb bin ich damals für ein Jahr nach Israel gegangen und habe an einer pluralistischen Yeshiva studiert. Ich wollte dem nachgehen, was Frauen wirklich nicht dürfen laut Gesetz und was eigentlich absoluter Bullshit ist, den wir kulturell angenommen haben. Das ist für mich jüdischer Feminismus: Der Mut, Tora und jüdisches Wissen an sich zu nehmen und mit den eigenen Werten zu verbinden, daraus etwas Neues zu kreieren und zu verstehen, dass man würdig ist und das Recht hat, es zu machen. Als die Kommentare zur Tora geschrieben wurden, saßen da Rabbiner und haben sich herausgenommen, zu allem eine Meinung zu haben und diese Meinung zum Gesetz zu machen.

Das Problem heute ist, dass wir den Mut von damals als Dogma nehmen, anstatt daraus die Lehre zu ziehen, dass auch du interpretieren und dir eine Meinung bilden darfst. Ich glaube vor allem, dass es im Diskurs rund ums Thema Gender besonders mutig ist, seine gesellschaftlichen Werte mit den Jüdischen zu verbinden. 

N: Was wünschst du dir für jüdische Räume, Organisationen und Gemeinden in Bezug auf Feminismus und die Rolle der Frau?

AG: Es braucht in vielen Räumen, vor allem europaweit gesprochen, einen radikalen Wandel, für den auf schmerzhafte Art und Weise Platz geschaffen werden muss. Keineswegs ist es ein einfacher Weg, gewisse Strukturen, vor allem patriarchale, zu durchbrechen. Nur weil eine Frau an der Spitze ist, hat das noch gar nicht viel zu bedeuten. Ich wünsche mir mehr Frauen, die in diese Räume gehen mit dem Selbstbewusstsein, dass sie damit gesellschaftlich etwas beitragen und auch jüdische Gemeinden diverser gestalten. Ich wünsche mir mehr intersektionale Gespräche innerhalb der Gemeinden. Dass die Stille rund um Jüdinnen und Juden mit Behinderung, queere Jüdinnen und Juden und POC Jews gebrochen wird. Wir brauchen junge Menschen, die laut und unbequem sind und führende Positionen in den Gemeinden einnehmen. Das gilt genauso für nicht-jüdische Spaces. Es braucht beispielsweise in Parteien mehr politisierte junge Jüdinnen und Juden. 

Interview: Sophie Orentlikher

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