Hoch die internationale Verwirrung?

Hoch die internationale Verwirrung?

Um eines vorwegzunehmen: Ich glaube an eine starke Linke, ich glaube an ihre Prinzipien und ihre Ideale. Wenn ich das nicht tun würde, dann wären die letzten zehn Jahre meines Lebens, die ich als politisierter Mensch verbracht habe, für die Katz‘ gewesen. Ebenso glaube ich an ein Recht der Palästinenser:innen, in Frieden zu leben und an ihr Recht, ein selbstbestimmtes Leben in einem palästinensischen Staat zu führen. So weit kann ich mit der Linken gehen. Wenn diese Forderungen jedoch mit dem Negieren des israelischen Staates einhergehen und seinen Bewohner:innen das Existenzrecht abgesprochen wird, dann haben wir ein Problem. Wenn die Personen, die diese Forderungen stellen, derart falsch abbiegen und das mit einem Karacho, dass sie alle kollektiv anrennen, haben wir ein Problem. 

Ich möchte hier nicht auf den 7. Oktober eingehen. Das wurde  im Rahmen der letzten NOODNIK-Sonderausgabe zur Genüge getan. Es gibt Dinge, die man nicht in Worte fassen und deren Schrecken keine Analyse gerecht werden kann. Aber lasst uns über die Linke hier in Österreich reden. Wir haben die Massenpsychose gesehen, das Betroffenheitsgehabe und die Verdrehungen. Wir haben die absurden Äußerungen jener Linken gehört, die von Geschichtsrevisionismus über Shoah-Relativierung bis hin zur Verklärung der Hamas als Freiheitskämpfer (bewusst nicht gegendert!) reichten. Wir könnten jetzt Antisemitismus-Expert:innen zitieren und Erklärungen heranziehen, die Hand und Fuß haben, um das alles irgendwie einzuordnen. Aber auch das ist bereits zur Genüge getan worden. Es braucht aber kein Expert:innentum, um den Fakt zu benennen, dass wir alle Personen im Umkreis haben, die wir wegen ihrer Meinung bezüglich des Konflikts verloren haben. Viele dieser Verluste waren und sind schmerzhaft, sie sitzen uns in den Knochen und zeigen uns unsere eigene Machtlosigkeit auf. Wenn die letzten Monate etwas offengelegt haben, dann ist es das, dass sichere Bündnisse nie so sicher sind und tiefe Freundschaften nie so tief sind, dass sie sich nicht auflösen könnten. 

Wie sollen wir über linken Antisemitismus reden, wenn er von Freund:innen und Verbündeten geäußert wird? Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Linken auf Marx und ihre Mütter (obwohl man das nicht macht) schwören würden, sie wären keine Antisemit:innen. Sie sind es aber oft leider doch. Bernd Marin hat dies mit der Terminologie „Antisemitismus ohne Antisemiten” beschrieben. Alle anderen sind Antisemit:innen, man selbst aber nicht. Antisemitische Ressentiments werden trotzdem  reproduziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste der Antisemitismus in neue Kleider schlüpfen, mutieren und sich neu kodieren, um weiterhin gesellschaftsfähig zu sein. Zumindest in linken Kreisen. Anderenorts blühte er prächtig weiter, wie diese eine hässliche Pflanze in Omas Garten, die man einfach nicht zum Eingehen bringt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird von der Linken als Zäsur verstanden, nach der die Linke sich geläutert habe. Wenn sie das überhaupt brauchte, denn angeblich waren ja alle im Widerstand.

Historische Kontinuitäten menschenfeindlicher Ideologien werden zwar erkannt, jedoch nie im eigenen Milieu. Es scheint, als hätte sich die Linke, die seit ihrer Formation im 19. Jahrhundert in erheblichen Teilen antisemitisch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag war, sich mit dem 8. Mai 1945 schlagartig geläutert. Jedoch scheint diese Läuterung genauso gut zu wirken, wie ein auf Tourist:innen zugeschnittenes, spirituelles Reinigungsritual irgendwo an einem „exotischen” Ort. Also nur so semi und wissenschaftlich nicht haltbar. Aber wie zeigt sich heute dieser Antisemitismus?

Israel, nur du allein…

…schaffst es, dass alle irgendwie deppert werden. Es wurde schon 1000-mal gesagt, aber trotzdem noch einmal, aber ein letztes Mal und deswegen gut zuhören: Nach Auschwitz musste sich der Antisemitismus neu erfinden. Make-Over, juhu. Die judenfeindlichen Ressentiments können sich nicht mehr in einer geläuterten, „zivilisierten” Gesellschaft offen äußern, darum müssen diese unter anderem auf den jüdischen Staat projiziert werden. Bevor jetzt wieder jemand aufschreit: Ja, Israel hat gewaltige Probleme, die kritisiert gehören. Die Gewalt der Siedler in der West Bank kann nicht gerechtfertigt werden, Netanyahu ist schrecklich und seine Koalitionäre noch schrecklicher. Habe ich alle wichtigen Punkte durch, damit ich nicht zum Faschisten erklärt werde? Gut, dann weiter im Programm: Israel wird als das kollektive Böse verstanden, das für alles Schlechte in der Region verantwortlich sei und insbesondere für alles Schlechte im Konflikt mit den Palästinenser:innen, die aufgrund der manichäischen Unterteilung in „Unterdrückte” und „Unterdrücker” niemals falsch politisch agieren könnten. In der Linken zeigt sich durch diese Dämonisierung auch eine Form des eliminatorischen Erlösungsantisemitismus: Wenn Israel endlich nicht mehr existieren würde, dann würde Frieden einkehren und alle Völker des Nahen Ostens könnten in Harmonie zusammenleben. In dieser gefährlich einseitigen Betrachtung werden die Vernichtungsabsichten der Hamas als Befreiungskampf verkannt. Es wird ignoriert, dass diese Vernichtungsabsichten von der selben Ideologie angetrieben werden, welche den Genozid an den Jesid:innen und die systematische Auslöschung der Kurd:innen anstrebte.   

Die Linke und der globale Süden

Die Stärke der Linken ist die Theorie, auch wenn selbige ihnen öfter ein Bein stellt. Eine ihrer großen Theorien ist der Postkolonialismus, ein Sammelsurium verschiedenster Ansätze, um globale Interdependenzen und Dependenzen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden erklären zu können. Der Kolonialismus hat seine Spuren hinterlassen und viele Länder und Menschen leiden bis heute darunter. Das ist richtig und zweifelsfrei belegbar. Das Problem, das dabei jedoch oft entsteht, ist, dass der Globale Süden zum einzig wahren Guten verklärt wird. Dadurch entsteht abermals ein Manichäismus, welcher der „westlichen Welt” alles Böse und den „Unterdrückten„ alles Gute zuschreibt. Das ist nicht nur insofern problematisch, als dass es alle Formen der Graustufen kategorisch auslöscht. Es spricht auch den Bewohner:innen des Globalen Südens die Fähigkeit zu überlegten politischen Handlungen ab, die auch schlecht sein können, und „orientalisiert“ sie somit. Wie kann man Israel in diesem Zusammenhang einordnen? Israels Entstehungsgeschichte ist kompliziert, das wissen wir. Es gibt tausende Bücher dazu. Laut vieler Stimmen des Postkolonialismus ist Israel eine „white european settler colony”. Das ist absurd, nicht nur deswegen, weil die meisten Israelis nicht weiß sind und nicht aus Europa kommen. Und wenn doch, dann sind sie vor allem aus Europa entkommen. Es ist absurd, weil Israel nicht per definitionem in die Kategorie einer Kolonie passt. Denn das wesentlichste Merkmal des Kolonialismus ist: Die Kolonie ist ein geographisches Gebiet, das unter der Kontrolle eines Mutterlandes steht. Dabei wird die Kolonie systematisch ausgebeutet, wovon das Mutterland profitiert. Israels Mutterland sucht man vergeblich, denn Israels historisches und gegenwärtiges Mutterland ist: Israel. Das drückt sich unter anderem im Leitspruch der Millionen Israelis aus, die vergangenes Jahr tagtäglich gegen Netanyahu demonstrierten: Wir haben kein anderes Land.

Dass das britische Mandat der Beweis für Israel als koloniale Identität sein soll, ist ebenso ad absurdum zu führen. Die britische Kolonialherrschaft hatte Beef mit jüdischen und arabischen Menschen, die beide das Land dekolonisieren wollten, das zuvor unter osmanischer Verwaltung stand, davor unter Ägyptischer und so weiter. Jüdinnen und Juden leben dort seit 3500 Jahren. Der Grund dafür, dass sie bis ins 20. Jahrhundert keine Bevölkerungsmehrheit stellen konnten, liegt darin, dass sie von den Kolonialmächten aller Länder ermordet, deportiert oder versklavt wurden. Es ist also kompliziert. 

Die Idee von Israel als Kolonialstaat fügt sich aber in einen der wichtigsten Aspekte des Antisemitismus ein: Jüdinnen und Juden werden nicht nur abgewertet, sondern auch „aufgewertet”. Sie werden als übermächtig dargestellt, ausbeuterisch und natürlich kontrollieren sie nichts weniger als die ganze Welt. Aus dem Blickwinkel des Antisemitismus steuern sie die Welt von den USA und Europa aus, sie steuern die Welt durch die Politik und den Finanzmarkt. Nur unter dieser Prämisse geht es sich aus mit dem „Kolonialstaat Israel”.

Israel und die Gefühle

Ein wichtiges Gefühl, das Junior-Nahost-Expert:innen in der Betrachtung des israelisch-palästinensischen Konflikts ergreift, ist die Parteinahme für den augenscheinlich „Schwächeren”. Natürlich ist der israelisch-palästinensische Konflikt asymmetrisch, jedoch ist der Mythos der israelischen Unbesiegbarkeit ein Produkt des Sechstagekrieges von 1967, der spätestens mit der Beinahe-Niederlage im Jom-Kippur-Krieg sechs Jahre später auf den Prüfstand gestellt werden musste. Gleichsam zeigen all jene Kriege, die von unzähligen arabischen Nationen gegen Israel geführt wurden, dass durch den Fokus auf den israelisch-palästinensischen Konflikt das Bild des Kräfteverhältnisses massiv verzerrt wird. Auch ist es schwer, die Zweite Intifada und den 7. Oktober nicht als „Niederlagen” zu bewerten. Eine Linke, die nun darauf pocht, dass sie immer auf der Seite der Unterdrückten stehen muss – was natürlich prinzipiell richtig ist – läuft aber Gefahr, komplexe historische und politische Zusammenhänge zu simplifizieren und durch die Projektion der „mächtigen Juden” auf den jüdischen Staat in den zuvor beschriebenen Aspekt des „aufwertenden” Antisemitismus hineinzufallen. Einfach, weil es sich richtig anfühlt. 

Dennoch: Die im Hamas-Krieg geschätzten Todeszahlen unter palästinensischen Zivilist:innen sind grausam, auch da kann man der Linken zustimmen. Darüber kann man nicht hinwegsehen. Jedoch wird es schwierig, wenn diese Gefühle nur für eine Seite vorhanden sind und die Schuld nur auf einer Seite gesucht wird. Israelis werden als Siedler und Faschisten diffamiert, egal, ob sie im Staatsgebiet Israels oder in der Westbank leben. Damit wird ihnen das Recht auf Mitleid abgesprochen, denn so wollen sie die tausenden Ermordeten und Verletzten Israelis des 7. Oktober „verstehen”. Darum sind die Geiseln, die sich noch immer im Gazastreifen befinden, nicht interessant. Denn in den Augen vieler Linker sind die Jüdinnen und Juden Israels die „bösen Unterdrücker”, egal ob ein Jahr alt oder 80, egal ob links oder rechts, religiös oder Hippie. Die israelischen Opfer werden im angeblichen Befreiungskampf der Hamas als notwendiges Mittel zum Zweck verkannt. Es scheint fast so, als müssten sie sterben und leiden, damit die Palästinenser:innen leben können. Durch diese Rationalisierung kann auch Antisemitismus weggedacht werden, selbst der schamlose Vernichtungsantisemitismus der Hamas. Die erschreckenden Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Österreich und Europa werden ebenso wegrationalisiert oder zumindest „verstanden”. Oder eben immer im gleichen Atemzug mit steigendem Rassismus erwähnt, um ihn mit einem „All sides!” zu tilgen. Gleichzeitig kann das Ressentiment gegen den jüdischen Staat gerechtfertigt werden, indem man ihm abspricht, irgendetwas mit Judentum zu tun zu haben, was vollkommen an den realen Erfahrungen der meisten Jüdinnen und Juden, auch jener in der Diaspora, vorbeischießt. Diese künstliche Trennung von Staat Israel und Judentum durch die Israel-Hasser:innen soll deren Behauptung rechtfertigen, dass Israel nur vorgäbe, alle Jüdinnen und Juden zu vertreten um dann andererseits zu behaupten, man hätte ja nichts gegen jüdische Menschen, nur gegen Zionist:innen. Dabei werden Jüdinnen und Juden erneut in Gut und Böse eingeteilt. Gute, und damit auch die Richtigen, sind die Antizionistischen, der Rest sind amoralische, verkommene, Genozid verherrlichende Zionist:innen. Dass ein Großteil der Jüdinnen und Juden prinzipiell zionistisch eingestellt ist und es unzählige verschiedene Definitionen von Zionismus gibt, die als einzigen gemeinsamen Nenner die jüdische Selbstbestimmung im Staat Israel haben, wird gekonnt ausgeklammert. Denn es fühlt sich richtig an, wenn man weiß, wer die Bösen sind. 

Diese Gefühle diktieren den Linken ihre Realität. Sie diktieren auch, wie Begrifflichkeiten eingesetzt werden. „Apartheid” und „Genozid” wird schneller gerufen als „Das Essen ist fertig!“. Aber Okkupation und Apartheid sind nicht das Gleiche, auch wenn man beides ablehnen muss. Wenn die Linke „Apartheid!” schreit, negiert sie damit obendrein die Erfahrungen von zwei Millionen israelischen Araber:innen und Palästinenser:innen, die als Staatsbürger:innen in Israel leben, und lässt diese nicht zum tatsächlichen Rassismus in Israel zu Wort kommen, den es auch dort zu kritisieren gilt. Auch sind zivile Tote in einem Krieg nicht dasselbe wie ein Genozid, selbst wenn manche verrückte israelische Politiker:innen grauenhaft genozidale Aussagen getätigt haben. Die ganze Diskussion um den Konflikt wäre weniger toxisch, wenn man nicht die bösesten Begriffe für die angeblich Bösen verwenden würde. Aber das würde sich vielleicht nicht richtig anfühlen. 

Die Lüge von der deutschen Volksgemeinschaft.

Mit verrückten K-Gruppen wie Der Funke sollte man nicht diskutieren. Wirklich nicht. Aber man kann diese Gruppe als Gegenstand einer Antisemitismusanalyse heranziehen. „Der Funke” veröffentlichte unlängst einen Artikel, der von der „Lüge der deutschen Volksgemeinschaft” sprach und behauptete, dass auf dieser Lüge die Solidarität mit Israel basiere. Es wurde argumentiert, dass die Arbeiter:innen sich gewehrt hätten und der Nationalsozialismus ein rein kapitalistisches Projekt gewesen sei und somit der Widerstand der Arbeiter:innen ignoriert werde. Ok, lieber Funke. Bitte schickt die Quellen zum omnipräsenten, proletarischen Widerstand an office@joeh.at. Keine Analyse der Welt kann diesen Artikel erklären. Vielleicht Psychose? Dieser Text geht Hand in Hand mit „Free Gaza from German guilt” und sogar noch einen Schritt weiter zu einem „Free the German left from German guilt”. Wenn die Linke einen Schlussstrich fordert, haben wir ein Problem. Ein Problem, das vor allem Jüdinnen und Juden zu spüren bekommen. Sie fordern ein abruptes Ende der Erinnerungskultur und wollen somit auch die Grenzen des Sagbaren verschieben, insbesondere in Bezug auf Israel. Durch diese Bagatellisierung und Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen soll es ihnen möglich sein, offen antisemitische Parolen gegen Israel skandieren zu können. Das haben sie am 27. Jänner bewiesen, als sie Israel mit der Gestapo, SA und SS  verglichen. Genau an dem Tag, der dem nationalsozialistischen Schrecken gedenkt. Ein Schrecken, der die Notwendigkeit Israels zementiert und untermauert. Sie wollen den toten Juden gedenken, aber nur dann, wenn sie sie dazu verwenden können, die lebendigen Juden zum Schweigen zu bringen. 

Es bleibt abzuwarten, ob es diesen Linken gelingen wird, sich selbst umzuerziehen. Es bleibt abzuwarten, ob sie Verantwortung für die getätigten Aussagen übernehmen werden. Vorerst ist klar: Jüdinnen und Juden sind in diesen linken Organisationen nicht willkommen. Nur wenn sie sich klar vom Zionismus distanzieren und sich dazu benutzen lassen, als Tokens gegen zionistische Organisationen zu schießen. Der Mainstream des Zionismus war übrigens sozialistisch geprägt. Gute Nacht.

Lior Saltiel

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