Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Rechtsprechung und politischer Realität

Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Rechtsprechung und politischer Realität

Israels und Hamas’ Führungen droht die Verhaftung

Nun ist es passiert. Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, Karim Khan aus Großbritannien, erklärte am 21. Mai 2024, dass er mehrere Anträge auf Haftbefehl im Kontext des Krieges Israels gegen die islamistische Terrororganisation Hamas gestellt hat. Zum einen betreffen sie drei Anführer der islamistischen Terrororganisation Hamas, namentlich den Hamas-Chef in Gaza Jahja Sinwar, den Anführer der Kassam-Brigaden Mohammed Deif, sowie den in Katar residierenden Chef des Politbüros Ismail Hanija. Zum anderen gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den Verteidigungsminister Yoav Galant. 

Der IStGH ist das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Als ständiger Gerichtshof ist der IStGH dafür zuständig, Einzelpersonen, nicht Staaten, für Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression zu bestrafen und agiert nach dem Prinzip der Subsidiarität. Das bedeutet, er greift eigentlich nur ein, wenn nationale Justizsysteme nicht in der Lage oder nicht willens sind, diese Verbrechen zu verfolgen.

Weltweit sind 123 Staaten Vertragsparteien des IStGH. Doch einige Staaten haben das Römische Statut (die vertragliche Grundlage des IStGH) nicht ratifiziert, darunter die USA, Russland, China, Iran, Syrien und eben auch Israel. Obwohl Israel kein Vertragsstaat ist, sieht der IStGH sich dafür zuständig, Verbrechen auf palästinensischem Gebiet zu untersuchen und zu verfolgen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Täter. Dies, da er 2021 entschied, dass der Beitritt Palästinas zum Römischen Statut ihm Jurisdiktion verleiht. Palästina konnte dem Römischen Statut beitreten, da die UN-Generalversammlung 2012 Palästina den Status eines Nichtmitglieds-Beobachterstaates verlieh. Dieser Status ermöglichte es Palästina, internationalen Verträgen beizutreten.

Welche Verbrechen den Anführern der Hamas vorgeworfen werden, ist klar: Es geht um den barbarischen Angriff am 7. Oktober, also die Massaker und Vergewaltigungen an Zivilist:innen in israelischen Kibbuzim und Dörfern sowie die Verschleppung von über 230 Geiseln. Hierbei betont der Chefankläger, diese Verbrechen würden “bis heute anhalten”. Die Vorwürfe gegen Sinwar, Deif und Hanija lauten unter anderem: vorsätzliche Tötung und “Ausrottung” von Israelis “im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung”, strafbar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch die Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt im Rahmen dieses „systematischen Angriffs“ stellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die Entführung und Misshandlung von Geiseln seien zudem strafbar als Kriegsverbrechen. Völlig unklar bleibt lediglich, wieso der IStGH den versuchten Massenmord durch den konstanten militärischen Beschuss israelischer Wohngebiete mit Raketen, sowie der Missbrauch der eigenen Bevölkerung durch die Hamas als “menschliche Schutzschilde” völlig ausgespart hat.

Schwieriger nachvollziehbar ist hingegen, was Netanjahu und Galant vorgeworfen wird. Zunächst, glaube ich, ist wichtig zu betonen, was der israelischen Regierungsspitze nicht vorgeworfen wird: Genozid, ebenfalls ein vom IStGH zu sanktionierendes Verbrechen, wird ihnen nicht angelastet, auch die Kriegsführung Israels, der Tod von Zivilist:innen in Gaza durch Militäreinsätze und das Verhalten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) werden nicht moniert. Ebenso plant Khan offenbar derzeit nicht, Israels Verantwortliche wegen des Verbrechens der Aggression, also der Führung eines illegalen Angriffskriegs, anzuklagen. Dementsprechend wurde, entgegen vorhergehender Erwartungen, auch der israelische Generalstabschef Herzi Halewi nicht im Antrag auf Erlassung eines Haftbefehls inkludiert. Explizit wird von Khan festgestellt, dass Israel das Recht hat “Maßnahmen zur Verteidigung seiner Bevölkerung zu ergreifen”.

Vorgeworfen werden Netanjahu und Galant Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowieKriegsverbrechen. Israels Kriegsführung setze mindestens seit dem 8. Oktober darauf, die Bevölkerung des Gazastreifens „auszuhungern“, um sie „kollektiv zu bestrafen” und um auf diese Weise Druck auf die Hamas auszuüben, die israelischen Geiseln freizulassen. Unter anderem habe die IDF am 8. Oktober die Versorgung Gazas mit Wasser, Nahrungsmitteln, Medizin und Elektrizität für einige Zeit abgeschnitten und schneide diese Versorgung auch seither “willkürlich” immer wieder ab. Auch Angriffe auf Hilfsorganisationen sowie auf Menschen, die für Hilfsgüter anstehen, würden zu diesem “gemeinsamen Plan” der israelischen Führung gehören, so der Vorwurf.

Dies stellt eine Zäsur dar. Noch nie wurde ein mit dem Westen alliierter Staatschef vom IStGH verfolgt, noch nie ein Staatschef eines Landes mit (noch) funktionierendem Rechtsstaat. Dennoch, glaube ich, muss die Bewertung des Antrags auf Erlassung eines Haftbefehls differenziert erfolgen. Schließlich ist Netanjahu noch weit von einer Verurteilung entfernt.

Einerseits sind natürlich die Verbrechen, die Israel vorgeworfen werden, nicht mit jenen, die wir normalerweise mit Verfahren vor Kriegsverbrechertribunalen assoziieren, vergleichbar. Die Verbrechen von Slobodan Milošević, der Regierung Ruandas oder auch Wladimir Putins, gegen den kürzlich ein Haftbefehl durch den IStGH erlassen wurde, sind auf einem gänzlich anderen Niveau der Barbarei als selbst die schlimmsten Exzesse israelischer Kriegsführung gegen einen von eliminatorischem Antisemitismus getriebenen Feind, der sich nach einem bestialischen Angriff in einem der dicht besiedeltsten Gebiete der Welt hinter Zivilist:innen und in Tunneln versteckt. 

Darüber hinaus hat es auch einen üblen Beigeschmack, dass die Anträge auf Verhaftung der israelischen Regierungsspitze und der Terroristen der Hamas im selben Atemzug erfolgten. Auch wenn dieses Vorgehen des IStGH Usus ist und die Vorwürfe gegen die israelische Führung und die Hamas-Spitze inhaltlich vollkommen anders sind und auch anders begründet werden, wird ein Bild moralischer Äquivalenz transportiert, das Wasser auf die Mühlen vieler antisemitischer Israel-Hasser:innen ist, die bereits seit der rechtsmissbräuchlichen Anrufung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) durch Südafrika im Dezember 2023 von einem Genozid fabulieren. Während zur Hamas und dem 7. Oktober forensisch gesicherte Beweise vorliegen  und der Ankläger den Kibbuz Be’eri oder das Nova-Festival in Re’im besuchen konnte, herrscht in Gaza Krieg; der IStGH konnte nicht auf dieselbe Art und Weise ermitteln. Es liegt auf der Hand, dass viele Behauptungen zur Situation dort von Propaganda geprägt und nicht prüfbar sind. So halbierte die UNO beispielsweise ihre Schätzung der im Gazastreifen getöteten Frauen und Kinder kürzlich. Eine getrennte Behandlung der Fälle hätte nicht nur die unterschiedlichen Beweisgrundlagen berücksichtigt, sondern auch die Gefahr verringert, ungewollt eine moralische Gleichsetzung oder eine politische Instrumentalisierung des IStGH herzustellen.

Aber zur Wahrheit gehört auch, dass nichts davon Netanjahu und Galant entlastet. Oberste Maxime des humanitären Völkerrechts ist der Schutz von Zivilist:innen, gerade im Krieg. Es soll festlegen, was erlaubt ist und was nicht, selbst in den gerechtesten Kriegen. Nicht der Krieg wird vor Gericht gestellt, sondern wie er (teilweise) geführt wird. Dass dies für alle gelten muss, unabhängig davon, wer angegriffen hat und welche Verbrechen die andere Seite begangen hat, sollte eine der wichtigsten Lehren und eine der größten Errungenschaften aus der Barbarei der beiden Weltkriege sein, und ist, was uns von Todeskulten wie der Hamas unterscheidet.

Die Vorwürfe, die Bevölkerung Gazas “auszuhungern” ,erfolgen zwar in einer Phase, in der Israel die Verteilung humanitärer Hilfe in Gaza in großem Umfang zulässt und sich die Lage in vielen Gebieten verbessert hat. Obwohl das Verhältnis zwischen getöteten Hamas-Kämpfern und zivilen Opfern ein im internationalen Vergleich äußerst gutes ist, hat die Regierung zu Beginn des Krieges jedoch bewusst und absichtlich Maßnahmen ergriffen (wohl entgegen der Wünsche des IDF), um der palästinensischen Bevölkerung das Leben so schwer wie möglich zu machen und um alle Versorgungswege von Israel in den Gazastreifen abzuschneiden. Multiple Warnungen des Chefanklägers (wie dieser im Antrag auf Erlassung des Haftbefehls auch ausführt) und diverser Alliierter, wie dem US-Präsidenten Joe Biden, dass es Konsequenzen haben würde, wenn Israel den Zugang zu humanitärer Hilfe verhindert oder willkürlich erschwert, wurden absichtlich ignoriert. Schuld am potenziellen Verfahren vor dem IStGH trägt die israelische Regierung selbst, die die Situation durch das Tolerieren genozidaler Aussagen einzelner Kabinettsmitgliedern noch verstärkt hat.

Völkerrecht und Verfahren vor dem IStGH sind inhärent politisch. Dennoch ist Khans Vorgehen nicht mit dem Missbrauch des Völkerrechts durch Südafrika vor dem IGH vergleichbar. Khan stellte seinen Antrag nach monatelanger Recherche und Konsultationen mit einem Expertengremium. Zu diesem Gremium gehörten Persönlichkeiten wie Amal Clooney und der ehemalige oberste Vorsitzende Richter für England und Wales. Auch Theodor Meron, ehemaliger Präsident des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien und Shoah-Überlebender, war Teil des Gremiums. Khan hat zudem mehrfache Vorwarnungen ausgesprochen. Es ist legitim, dass er die erhobenen Vorwürfe von einem Gericht klären lassen möchte.

Es bleibt unklar, wie Khan zu dem Schluss kommt, dass das im Römischen Statut verankerte Prinzip der Komplementarität nicht eingehalten wird. Dieses Prinzip besagt, dass der IStGH nur dann eingreifen darf, wenn nationale Gerichte nicht tätig werden. Obwohl Israel mit Ehud Olmert und Mosche Katsav bereits einen ehemaligen Premierminister und Präsidenten inhaftiert hat (wohlgemerkt nicht wegen Kriegsverbrechen) und gegen Netanjahu mehrere Verfahren wegen Korruption laufen, wurde diese Frage vom Expert:innengremium nicht geprüft.

Tatsächlich bietet das Komplementaritäts-Prinzip aber auch den einfachsten und besten Ausweg aus einem Verfahren vor dem IStGH: Anstatt dem Gerichtshof vorzuwerfen, antisemitisch zu agieren und dessen Legitimität zu untergraben, sollte Israel die Vorwürfe selbst in einem fairen Verfahren prüfen, und Netanjahu und Galant – sofern sich die Vorwürfe als zutreffend erweisen – verurteilen. Sobald der jüdische Staat ein Verfahren einleitet, hat der IStGH keine Jurisdiktion mehr. 

Insgesamt demonstriert der Antrag vor allem eines: Die extrem rechte Regierung in Jerusalem ist eine Gefahr für Israel. Angeklagt werden soll nicht die IDF und ihre Kriegsführung, sondern die kurzsichtige, egozentrische und rachsüchtige politische Führung. Die größte Gefahr für Israels nationale Sicherheit ist neben der andauernden Bedrohung durch den Iran und seiner Vasallen und den Angriffen der Hamas auch der drohende Verlust jeglicher internationaler Unterstützung und Legitimität. Deshalb bin ich der Meinung, dass die zehntausenden Demonstrant:innen im ganzen Land recht haben, wenn sie ein Abkommen zur Befreiung der verbliebenen 128 Geiseln fordern, das ein Ende des Krieges ermöglicht, und ein Ende dieser Regierung verlangen. Hinzukommen muss die Forderung, in Jerusalem einen Prozess oder eine Untersuchung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen Netanjahu und Verteidigungsminister Galant einzuleiten.

Bini Guttmann

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