“Oh you’re the rabbi?”

“Oh you’re the rabbi?”

Queerness, Feminismus und Judentum zusammenzudenken ist für die amerikanische israelische Rabbinerin Avigayil Halpern kein Kompromiss, sondern eine Symbiose. Wie das genau ausschaut und sich in ihrer Arbeit manifestiert, erzählt sie hier dem NOODNIK.

NOODNIK: Kannst du uns von deinem Werdegang zur Rabbinerin erzählen und wie deine Identität als Frau und queere Person diesen beeinflusst hat?

Avigayil Halpern: Ich bin modern orthodox in den USA aufgewachsen. Torah und Talmud zu lernen, war schon immer etwas, das mich fasziniert hat. Und zwar so sehr, dass ich mich akademisch mit Judaistik auseinandersetzte und darin promovieren wollte. Doch nachdem ich mich einige Semester intensiv mit interessanten Texten beschäftigte, diese aber isoliert an meinem Schreibtisch lernte, realisierte ich, dass ich mich einer Arbeit hingeben möchte, die lebendiger und sozialer ist. Ich hatte das Glück in der ersten Kohorte einer Rabbiner:innenausbildung einer traditionell egalitären Yeshiva in New York zu sein und so begann meine Reise. Teil dieser Reise ist es immer noch, mein imaginäres Idealbild eines Rabbiners aufzubrechen, welches in meinem Kopf männlich und orthodox ist. Ich versuche diese Idealvorstellungen abzubauen und mir selbst zu vertrauen. Obwohl ich meine Kompetenzen und mein ausgeprägtes Wissen kenne, möchte ich meinen Erfolg als Rabbinerin trotzdem nicht nur daran messen, wie viel ich weiß, sondern auch daran, wie tief meine Beziehungen zu den Menschen sind und wie meine Torah-Lehre für andere von Bedeutung sein kann.

NOODNIK: Auf welche Weise beziehst du queere Perspektiven in deinen Unterricht ein? Wie gehst du an Diskussionen über queere Themen im Kontext jüdischer Texte und Traditionen heran?

Avigayil: Anstatt die Integration von Queerness und feministischen Themen im jüdischen Kontext als Problem anzusehen, das es zu lösen gilt, versuche ich den Fokus darauf zu setzen, inwieweit sie zusammengehören, sich ergänzen und welche Chancen das mit sich bringt. Darunter verstehe ich es, die Halacha zu erweitern und neu zu denken. Wie können queere Menschen bestimmte Arten von Praktiken ausüben, ihre Stimme einbringen und so die Torah mitprägen? Ich versuche also Queerness als eine zusätzliche Ressource anzusehen, die der Torah eine weitere Lesart geben kann. Ich verfolge den Ansatz zu überlegen, wie all meine Erfahrungen in die Torah einfließen können und wie diese dadurch breiter gedacht werden kann. Es hat solch ein Potential, unsere Erfahrungen als FLINTA Personen und als queere Menschen in jüdisches Lernen einzubringen. Die Vermittlung von Torah ist ein Dialog zwischen Menschen, Generationen und Gemeinschaften. Es ist ein in Konversation treten und das Hinzufügen unserer eigenen Anteile. Nichtsdestotrotz kommt es auch auf die Texte an. Bei einigen muss man tonnenweise Neuinterpretationen vornehmen, weil einige aus einer queeren oder feministischen Perspektive heraus wirklich problematisch und diskriminierend sind. Ich denke, es ist auch sehr authentisch jüdisch Sachverhalte neu zu interpretieren, um diese inklusiver zu gestalten. Ich sehe das Potenzial, dass die Torah als ein Produkt von Jahrtausenden an kollektiver jüdischer Weisheit hat. Über Generationen hinweg wurde sie vom jüdischen Volk weitergegeben, dass auf unterschiedliche Arten Marginalisierung erlebt hat. Also kann sie auch verwendet werden, um die Minderheitserfahrung queerer Personen nahbarer zu machen.

NOODNIK: Welche Reaktionen erfährst du aufgrund deiner Identität in jüdischen Gemeinden?

Avigayil: Vieles von dem, was ich erlebe, ist dieselbe Art von Sexismus und Homophobie, mit denen junge queere Frauen an jedem Arbeitsplatz konfrontiert sind. Ich denke nicht, dass es in irgendeiner Form etwas Einzigartiges der jüdischen Gemeinden ist. Etwas, mit dem ich oft konfrontiert werde, ist, dass Leute überrascht sind. „Oh, you’re the rabbi? You are queer?“. Es scheint sowohl Verwirrung auszulösen, dass eine Frau mit geblümtem Kleid Rabbinerin ist, als auch, dass eine religiöse Autoriät nicht heterosexuell ist. Es ist oft nicht böse gemeint und lediglich eine ehrliche Verwirrtheit, aber es ist sehr kräfteraubend, meine Position ständig erklären und somit erkämpfen zu müssen. Ich muss jedoch zugeben, dass ich manchmal selber überrascht bin, dass ich Rabbinerin bin. Es hat später sehr viel innere Arbeit abverlangt, mich selbst als eine echte Rabbinerin zu sehen, da ich in einer Gemeinde aufwuchs, in der es keine weiblichen Rabbinerinnen gab. Während ich mich etwa über überraschte Blicke ärgere, kann ich meinen Blick zunächst nach innen richten und mich selbstbewusster in meiner Rolle wiederfinden.

NOODNIK: Kannst du über Initiativen oder Projekte sprechen, an denen du beteiligt bist, um die Inklusion von LGBTIQ+ Personen im jüdischen Raum zu fördern?

Avigayil: Ich arbeite gerade an einem Buch über queere Nidah, das sind jüdische Gesetze in Bezug auf Menstruation und Sex und wie sie auf queere Paare angewandt werden können, die an dieser Praxis teilnehmen wollen. Ich sehe es als ein queer-feministisches Projekt, weil es queeren Paaren eine Daseinsberechtigung gibt und dadurch ein Zugang geschaffen wird, durch den sie sich auf diesen Teil der jüdischen Tradition einlassen können. Gleichzeitig wird Nidah in vielen progressiven jüdischen Bewegungen als sexistisch abgelehnt, ich sehe es aber als einen feministischen Schritt, sich diese Praktiken selbstbestimmt anzueignen und sie anzupassen. Für mich ist es wichtig, die Gesetze der Torah aus einer egalitären Perspektive zu hinterfragen, trotzdem möchte ich nicht alles über Bord werfen müssen, was aus traditioneller Sicht mit Frauen assoziiert wurde.

NOODNIK: Hast du in den letzten Jahren positive Veränderungen oder Fortschritte bei der Inklusion von queeren Menschen in jüdischen Gemeinden gesehen?

Avigayil: Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein wollen und die Emanzipation queerer Menschen ist ein fortlaufender Prozess, sowohl innerhalb als auch außerhalb jüdischer Gemeinden. Queere Jüdinnen und Juden wachsen mit einem anderen Selbstbewusstsein auf als die Generationen davor, alleine da sie Pride Flaggen auf den Straßen ihrer Städte sehen. Ich würde mir wünschen, dass uns diese Flaggen nicht nur auf dem Weg in die Synagoge begleiten, sondern auch im Inneren zu sehen sind.


Interview: Sophie Orentlikher

Hinterlasse einen Kommentar