“Queers for Palestine” und ihre Gegner:innen: Widersprüche eines Diskurses
Emanzipation und Regression
Seit Jahren lassen sich sowohl auf den offiziellen Christopher Street Days, als auch auf Demonstrationen progressiver Gruppen ihre Schilder beobachten: “Queers for a liberated Palestine”, “You can’t pink wash colonialism”, oder “Queers against Israeli Apartheid”. Auch auf dem Instagram-Account “Queers for Palestine”, dem rund 16.600 Menschen folgen, finden sich diese Slogans. Der Account bezeichnet sich selbst als “Queer bloc supporting direct action for Palestine”, dies gefolgt von einer palästinensischen, einer Regenbogen- und einer trans*-Pride-Flagge. Der Account gehört offensichtlich zur queer-aktivistischen Szene in England. Die Postings der Seite zeigen die Klassiker des Antiisraelismus. So zum Beispiel Vorwürfe, der jüdische Staat betreibe “Pinkwashing” oder “Artwashing”, um vom “Kolonialismus” abzulenken, oder Aufrufe der antisemitischen BDS-Kampagne.
Im deutschsprachigen Raum scheint sich eine immer größere Gruppe diese Forderungen auf die Regenbogenfahnen zu schreiben. So zum Beispiel auf “pro-palästinensischen” Versammlungen nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Es wurde aber bereits beim Radical Queer March 2019 in Berlin für einen explizit BDS-befürwortenden Queers for Palestine-Block aufgerufen.
Die Probleme der Kritik
Mir liegt es fern, mich mit dem Label Queers for Palestine zu identifizieren. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass Queers for Palestine-Gruppen daran beteiligt sind, queere und intersektionale Räume für Jüdinnen und Juden zur No-Go-Area zu machen, wenn sie den antizionistischen “Loyalitätstest” (Shulamit Volkov) nicht bestehen. Und dennoch: Oft machen es sich Menschen in der Auseinandersetzung mit diesen Gruppen zu einfach. Spottend insinuieren sie, das Weltbild der Queers for Palestine sei so offensichtlich widersprüchlich, dass es ihnen nur an Intelligenz mangeln könne. Entblößen doch die Reaktionen auf diese Bewegung häufig lediglich das tatsächliche Gedankengut vermeintlicher Verbündeter im Kampf gegen Antisemitismus. Der Queers for Palestine-Bewegung einen Mangel an “Verstand” zu unterstellen, lässt jedoch eher auf narzisstische Züge schließen. Ihnen direkt einen Aufenthalt in dem von der islamistischen Hamas kontrollierten Gebiet zu wünschen, um sie damit der Bigotterie zu überführen, lässt einen (impliziten) Todeswunsch durchscheinen. Politischen Gegner:innen mit einer Argumentation ad hominem zu begegnen oder ihnen gar den Tod zu wünschen zeigt, dass diejenigen, die so agieren, oft selbst nicht halb so emanzipatorisch und aufgeklärt sind, wie sie sich darstellen.
Den gängigsten Vorwürfen nach handelt es sich bei der queeren “Palästina-Solidarität” schlicht um Paternalismus und holzschnittartige Weltbilder. Diese Erklärung ist defizitär.
Hier hilft der Blick auf prominente Figuren queerer Denkschulen. Kein Weg führt an Judith Butler als DER Queer-Theoretikerin, die in ihren Debattenbeiträgen explizit auf ihre jüdische Position hinweist, vorbei. Butler trat sowohl 2006 als auch Anfang 2024 mit relativierenden Vergleichen zu Hamas und Hisbollah in die Öffentlichkeit. Sie ist als zentrale Figur der Queer-Theory seit Jahren eine sich lautstark bekennende Unterstützerin der BDS-Kampagne. Zwar weist ihr Buch “Am Scheideweg” durchaus bemerkenswerte Denkansätze einer tiefgreifenden Kritik am Nationalismus und völkischem Denken auf, doch scheitert Butler an dessen konsequenter Anwendung.
Woran hängt das?
Butlers Positionierung reicht aber nicht aus, um die vehemente Solidarisierung queerer Menschen mit der palästinensischen Sache zu erklären. Selbstverständlich ist Antisemitismus – der die Kultur westlicher Gesellschaften prägt und dessen Kernstruktur das politische Bewusstsein vieler Menschen untermauert – ebenfalls ein Problem queerer Bewegungen. Ebenso wie die fehlende Auseinandersetzung mit ihm. Folgt man der Theorie vieler Aktivist:innen dieser Bewegung, so lösen sich sämtliche Probleme mit der Auslöschung der Existenz des Staates Israels auf. Eine solche “Hoffnung auf Erlösung”, die unweigerlich mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden und/oder dem jüdischen Staat verbunden wird, ist zutiefst antisemitisch. Diese Besonderheit des Antisemitismus – Erlösung durch Vernichtung – wird in den “progressiven” Bewegungen übersehen. Viele stellen sich somit die Frage: Warum sollte eine bestimmte Gruppe im Kampf für die Befreiung bevorzugt werden? Und so bleiben Verbindungslinien zwischen Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit unverstanden. Alles wird dem universellen Kampf um die Befreiung untergeordnet. Als Queers, die nahezu überall Gewalt und Unterdrückung erleben, erscheint eine Verbindung zu den ehemals und weiterhin Kolonisierten offensichtlich – wobei im Falle der Parteinahme für die palästinensische Sache der konstruierte Vorwurf des Siedlerkolonialismus dazu dient, den historischen und ideologischen Ambivalenzen auszuweichen. Denn der politische Zionismus wird in seiner Komplexität nicht verstanden und von einer von Nationalismus und Kolonialismus beeinflussten, pluralen, antikolonialen Bewegung auf bestimmte Momente und Persönlichkeiten reduziert.
Die Kritik an Queers for Palestine mischt sich nicht selten mit queerfeindlichen Ressentiments. Etwa Memes über “Chicken for KFC”, der Vorschlag, auf eine im Gazastreifen zu organisierende Pride oder eine ins Lächerliche gezogene Darstellungen von queeren Menschen. Dies spitzt sich weiter zu, wenn queeren Menschen, deren Alltag von Gewalt und Ausgrenzung geprägt ist, in paternalistischer Manier erklärt wird, es handle sich beim globalen Norden um ein queeres Wunderland, während antidemokratische Regime im Nahen Osten den Tod bedeuteten. Selbst wenn Homosexualität unter der Hamas oder den Mullahs im Iran tatsächlich den Tod bedeutet, so verkennt diese Argumentation gegen die Queers for Palestine ihre aus der marginalisierten Lebenswirklichkeit entspringende Projektion: Nämlich die unverwirklichte Hoffnung eines kommenden palästinensischen Staates, in dem es Freiheit gibt. Die Logik entsprechender queerer Aktivist:innen: Endet “deren” Unterdrückung, dann endet auch die “unsere”.
Mehr Komplexität wagen
Ein Mehr an Komplexität würde einen besseren Umgang mit diesen Widersprüchen ermöglichen. Selbst wenn queere Menschen in Israel die rechtlich beste Situation in der Region vorfinden , ist das Land abseits von Tel Aviv keineswegs ein queeres Wunderland: Rabbiner und Politiker:innen fallen mit queerfeindlichen Hasstiraden auf; bei der Pride-Parade in Jerusalem kommt es regelmäßig zu Angriffen. 2015 kam es sogar zu einem Mord an einem Mädchen durch einen ultraorthodoxen Mann. Queere Menschen, die sich mit den Palästinenser:innen solidarisieren, solidarisieren sich nicht gleichermaßen mit der Hamas. Für viele sind die Kämpfe der Befreiung von Frauen und queeren Menschen verbunden mit der Überwindung des Kolonialismus. Solidarität mit queeren Menschen in Gaza oder dem Westjordanland bedeutet für sie, den Kampf gegen die Besatzung zu führen. Gemeinsamkeiten bleiben dabei oft auf der Strecke, Israel wird in diesem Denken zum Unterdrücker. Wer nicht gegen den jüdischen Staat Partei ergreift, unterstützt angeblich die Unterdrückung. Diese Denkstrukturen stellen eine offene Flanke für Antisemitismus dar.
Antisemitismus als negative Integrations-
ideologie
Um diesen Ambivalenzen und den vor der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus resignierenden Weltbildern zu begegnen, bedarf es einer ausgesprägten Komplexität. Es bedarf der Empathie für queere Lebenswirklichkeiten weltweit. Und damit, an den Problemen der eigenen Gesellschaft Kritik zu üben und diese Probleme damit auch anzuerkennen. Es ist notwendig, sich von Projektionen Israel gegenüber zu lösen. Denn einerseits ist dieser Staat zwar der queerfreundlichste Ort im Nahen Osten. Dennoch stellt Israel ein national und zunehmend ethnisch definiertes Staatswesen dar, in dem Rassismus und Queerfeindlichkeit wie in allen anderen Staaten auch weiterhin existiert.
Antisemitismus stellt eine negative Integrationsideologie dar. Gemeinschaftsgefühl und vermeintliche Harmonie können darüber hergestellt werden. Für mich persönlich bedeutet das: Der Preis dafür, dem zu widersprechen, ist die Einsamkeit. Denn genauso, wie mich eine Israelsolidarität abstößt, die sich mit Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit mischt, kann ich auch nicht Teil von Bewegungen sein, in denen die Einigkeit bei internationaler Solidarität, dem Kampf für Selbstbestimmung von Frauen und Queers, oder die Gerechtigkeit für alle marginalisierte Gruppen mit Antisemitismus erkauft wird. Der Preis ist erneut Einsamkeit.
Monty Ott