Am Flohmarkt der Bewusstseinsbildung
Als ich am Anfang meiner Studienzeit auf einem Flohmarkt schlendere, werde ich auf ein kleines Porzellangefäß einer ungarischen Porzellanmanufaktur aufmerksam, von der meine Mutter gelegentlich Einzelteile auf Flohmärkten kauft. Ich entscheide mich, ihr meinen Fund zu schenken. Meine Begleitung, eine ehemalige Schulkollegin, reagiert hingegen verblüfft: Porzellan sei doch etwas, das man erbe, nicht kaufe!
Auch ein Jahrzehnt später habe ich den Vorfall nicht vergessen. Zum einen war die Aussage unglaublich klassistisch: Als ob in Österreich alle das Glück hätten, zu erben. Zum anderen brachte ihre Reaktion die Ignoranz im postnazistischen Österreich prägnant zum Ausdruck: Das aus Geschichtsbüchern Gelernte übersetzte sich bei vielen nicht in ein Bewusstsein für die Brüche in Familien mit NS-Verfolgungsgeschichte; nicht in ein Bewusstsein dafür, dass enteignete Familien nach der Shoah nichts mehr hatten und das meiste nicht wiederbekamen – sogar dann nicht, wenn sie sich gegen alle Widerstände, in langjährigen juristischen Verfahren für die Restitution des ihnen geraubten Eigentums einsetzten.
Gerade alltägliche Gegenstände, finanziell wertlose Habseligkeiten, fanden ihren Weg nur selten zu ihren rechtlichen Besitzer:innen zurück. Nicht nur, weil ein Großteil dieser Menschen die NS-Verfolgung und Vernichtung nicht überlebt hatte; sondern auch, weil es über geraubtes oder zurückgelassenes, materiell wertloses Eigentum kaum Nachweise gab – und vieles während der Kriegsjahre zerstört, eingesteckt, mitgenommen, verscherbelt und verschenkt wurde.
Nach der Shoah suchten die Überlebenden auch weniger nach ihren Habseligkeiten, sondern eher nach überlebenden Familienmitgliedern. Die Prioritäten waren andere; jene Überlebende, die in Österreich blieben oder zurückkehrten, versuchten sich zurechtzufinden, trotz allem weiterzuleben, sich aus der Asche ein neues Leben aufzubauen.
Ab 1946 gab es in Österreich Rückstellungsgesetze, die eine Naturalrestitution – also die Rückstellung des enteigneten Guts in dem Zustand, in dem es sich nach dem Krieg befand, unabhängig von Vollständigkeit oder Beschädigung – an jüdische Österreicher:innen vorsah. DPs (Displaced Person), die in Österreich gestrandet und geblieben waren, hatten keinen Anspruch auf Naturalrestitutionen.
Zum Beispiel erhielt die IKG jüdische Kulturgüter, die während der Shoah aus den zerstörten Synagogen, Privathaushalten und dem alten jüdischen Museum geraubt wurden, zurück – ein Kulturerbe, das als Dauerleihgabe im Jüdischen Museum Wien zu sehen ist.
Für Überlebende oder Erb:innen gestalteten sich die Rückstellungsverfahren schwierig. Sie standen in der Bringschuld und mussten stichfeste Beweise für das ihnen widerfahrene Unrecht vorlegen. Wenn es ihnen nicht gelang, ihre Ansprüche genügend zu belegen, wurde prinzipiell gegen sie entschieden.
Doch auch mit Belegen stellten damalige Restitutionen meist einen neuerlichen Betrug für die Erb:innen dar. Beispielsweise wurde jenen des Nestroyhofs in einem außergerichtlichem Vergleich 1951 eine karge Summe von 3500 Schilling ausbezahlt – ein Unrecht, das bis heute nicht ausgeglichen wurde und die Ironie im österreichischen Umgang mit seiner Vergangenheit deutlich veranschaulicht: An einem vor 1938 jüdisch geprägten Ort, der im Nationalsozialismus „arisiert“ wurde und sich seither im Besitz derselben Familie befindet, füllen heute Verfolgungsgeschichten die Theatersäle.
Die Claims Conference, ein Zusammenschluss jüdischer Organisationen, verhandelte seit 1953 mit der Republik Österreich, um flächendeckende Entschädigungen und Restitutionen jüdischer Opfer zu bewirken – doch Österreich verstand sich als erstes Opfer NS-Deutschlands und kam den Forderungen Jahrzehnte lang nicht nach.
Die Affäre rund um Waldheim und sein Pferd brachten in den 1980er Jahren einiges ins Traben. Allmählich fand eine Bewusstseinsbildung für die Verantwortung Österreichs statt – nicht zuletzt aufgrund des unermüdlichen Einsatzes von Aktivist:innen und Interessensgruppen aus den Reihen der ehemals verfolgten Menschen und ihrer Nachfahren.
1991, ganze 46 Jahre nach Kriegsende, gestand der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky die Mitschuld Österreichs ein – ein Paukenschlag für das Land der unschuldigen Mitläufer:innen und Täter:innen, eine politische Notwendigkeit, um der Europäischen Union beizutreten.
1995 wurde der Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus gegründet. 1998 folgte die erste Historikerkommission und die Kommission für Provenienzforschung sowie das Kunstrückgabegesetz.
2001 wurde das Washingtoner Abkommen unterzeichnet. Es sorgte ab dann für die Errichtung eines Allgemeinen Entschädigungsfonds sowie einer Schiedsinstanz für Naturalrestitutionen von öffentlichem Vermögen; sicherte zusätzliche Sozialleistungen in den Bereichen der Opferfürsorge, des Pflegegeldes und der Pensionsversicherung; ermöglichte die Neugründung des jüdischen Sportvereins Hakoah sowie die Instandsetzung jüdischer Friedhöfe; machte die Akten im Staatsarchiv für die Bearbeitung von Restitutions- und Entschädigungsanträgen zugänglicher; und sollte die Restitution von Kunstgegenständen und die Provenienzforschung beschleunigen. 56 Jahre nach der Shoah kam das Abkommen für die meisten Überlebenden viel zu spät, falls sie zu dem Zeitpunkt noch lebten.
Institutionell hat sich – spät aber doch – einiges getan, wenn auch immer mit antisemitischem Gegenwind. Sobald die Themen Entschädigung und Restitution in der Öffentlichkeit stehen, folgt bis heute immer auch der antisemitisch bedingte Neid auf die „Wiedergutmachung“, die niemals wieder etwas gut machen wird können.
Meine Generation ist die erste, die theoretisch ein unverfälschtes historisches Wissen in der Schule hätte erhalten sollen. Man hätte sich von den Maturajahrgängen um die 2010er Jahre einiges erhoffen können: Eine kritische Konfrontation mit der eignen Familiengeschichte; eine Auseinandersetzung mit dem Nachleben der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik für Überlebende und ihre Nachfahren im alltäglichen, gegenwärtigen Leben; Reflexionen über die schleppende Aufarbeitung Österreichs; oder aber auch ein Pflichtbewusstsein für den Kampf gegen Antisemitismus, Faschismus, (Gadjé-)Rassismus, Antislawismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus.
Stattdessen mischten sich zum Geschichtsunterricht gesamtgesellschaftlich verbreitete geschichtsrevisionistische und antisemitische Gefühlserbschaften, die das Geschichtsbild meiner Altersgenoss:innen verfärbten. Wenn überhaupt, wurde die Shoah zu einer universellen Lehre konstruiert, einer Lektion für alles und nichts. Nur selten jedoch für ein Verständnis der Singularität dieser Zäsur historischen Ausmaßes und seiner Auswirkungen auf die Betroffenen und ihre Nachkommen bis heute.
Und so erklärte mir dieselbe ehemalige Schulkollegin vom Flohmarkt bei anderer Gelegenheit auch, dass die Menschen damals keine andere Wahl gehabt hätten, als mitzumachen – sonst hätten sie sich und ihre Familien in Gefahr gebracht. Ihre und meine Generation sind nun die jüngeren Pädagog:innen, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Eltern. Soviel zur Hoffnung einer kritischen Bewusstseinsbildung im postnazistischen Österreich.
Livia Erdösi