Chauvinistische Ignoranz

Chauvinistische Ignoranz

Wie das größte Massaker in Israels Geschichte unvorbereitet abgewartet wurde und diejenigen traf, die es verhindern wollten

Der 7. Oktober – eine Katastrophe, die überraschend kam. So wird‘s erzählt. Doch war sie das? Ein aufgebrochener, überrannter Zaun, hunderte bewaffnete Terroristen, die von Gaza nach Israel stürmen, ein Raketen- und Drohnenhagel auf die umliegenden Kibbutzim, Dörfer und Städte. Dabei wird genau diese Grenze doch so streng überwacht, jede kleine Bewegung registriert und jeder Versuch, dem Zaun zu nah zu kommen, mit Schreckschüssen abgewehrt.

In Israel wurden schon kurz nach dem „Schwarzen Shabbat“ Stimmen laut, die das Narrativ des Überraschungsangriffs widerlegen. Stimmen wie die der Tatzpitaniyot und ihrer Angehörigen. Tatzpitaniyot bedeutet auf Hebräisch „Beobachterinnen“ – es sind Soldat:innen, in der Regel weiblich, die die Grenzen Israels beobachten. Sie scannen täglich acht Stunden lang ihre Bildschirme. Sie dürfen dabei ihre Augen nicht für eine Sekunde der Bildschirmfläche entziehen und dokumentieren jede kleine Bewegung, Veränderung oder Auffälligkeit. Die Tatzpitaniyot sind diejenigen, die jeden Stein und Baum in ihrem Zuständigkeitsbereich in Gaza kennen. Unter Schlafmangel, strengen Hierarchien und langen Schichten dokumentierten die Tazpitaniyot an der Grenze zu Gaza Monate vor dem 7. Oktober immer häufiger werdende Trainingseinheiten, das Ausschalten von Überwachungskameras und Drohnenaktivitäten auf der anderen Seite des Zaunes. Bewaffnet sind die meisten Soldatinnen auf solchen Basen nicht, geschweige denn ausgebildet und vorbereitet, um sich im äußersten Fall zu schützen und zu kämpfen. 

Die Tragödie von Nahal Oz

Eine von ihnen war Noa Reinhard, 21 Jahre alt aus Jerusalem. Der NOODNIK sprach mit ihr eine Woche nachdem sie ihren Dienst in der israelischen Armee beendet hatte. Ihr Posten war die Base Nahal Oz, die seit Oktober letzten Jahres auf tragische Art und Weise für viele ein Begriff geworden ist. Noa kann nur von Glück reden, dass sie am 7. Oktober nicht in ihrer Basis war, welche wie ein zweites Zuhause für die Soldatin gewesen ist. Ein Kommandeur:innenkurs, den sie zum Zeitpunkt des Angriffs besuchte, rettete ihr das Leben. Am Morgen des Massakers infiltrierten Hamas-Terroristen die Basis und töteten 15 junge Frauen. Sieben Soldatinnen wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt, von denen eine durch die israelische Armee befreit werden konnte und eine bereits ermordet wurde. Durch mangelndes Backup und fehlender Einweisung seitens der Armee waren die Tatzpitaniyot von Nahal Oz diejenigen, die den Schlag des 7. Oktobers als erstes fast schutzlos erleiden mussten. Wie Noa Reinhard uns erzählt, sprachen die Soldatinnen schon seit Monaten vor dem Anschlag Warnungen an ihre Vorgesetzten und höhere Offiziere aus. Hier wird bewusst nicht gegendert, da die Übergeordneten männlich sind. Sie meldeten ihre Beobachtungen, von denen immer deutlicher wurde, dass etwas Schlimmes bevorstand. Dass „Hamasnikim“, wie Noa sie nennt, sich auf etwas vorbereiteten und die Frage nicht war, ob, sondern wann es passiert. „Sie würden sagen: ‚Ihr seid unsere Augen, nicht der Kopf, der Entscheidungen über die Informationen treffen muss‘”, berichteten einige Tazpitaniyot der Zeitung Haaretz in Bezug auf ihre Vorgesetzten. Sie sollten sich nicht einmischen in die Interpretation dessen, was sie sehen. Diese chauvinistische Attitüde führte dazu, dass das größte Massaker auf die israelische Bevölkerung seit der Staatsgründung unvorbereitet abgewartet wurde und diejenigen, die es verhindern wollten, zuerst umbrachte. 

Noam Avramovich, Shir Eilat, Roni Eshel, Shay Ashram, Yam Glass, Maya Villalobo Polo, Aviv Hajaj, Hadar Cohen, Yael Leibushor, Adi Landman, Shirel Mor, Shahaf Nissani, Shirat Yam Amar, Noa Price, Shira Shohat, Liri Elbag, Karina Ariev, Agam Berger, Daniela Gilboa, Na‘ama Levy, Ori Magidish und Noa Marciano bezahlten mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit den Preis, den strukturelle Frauenfeindlichkeit mit sich bringt.

Auch in den eineinhalb Monaten, in denen Noa ihren Kurs absolviert hatte, war sie im stetigen Kontakt mit ihren Kolleginnen, die ständig ihre Sorgen äußerten. Sorgen, die belegt wurden. Sorgen, die an die zuständigen Personen herangetragen und ignoriert wurden. 

Der 7. Oktober steht für viele Erkenntnisse, Geschichten und Schicksale. Er hat vor allem die Brutalität und die Gefahr der radikal-islamistischen Hamas deutlich gezeigt. Er hat auch bestätigt, dass das Patriarchat tötet. Dass das Nicht-ernst-nehmen von Frauen tötet. 

Patriarchat – die Sicherheitslücke

Das Selbst- und Fremdbild der israelischen Armee ist eines, das von Hightech, einem millionenschweren Abwehrsystem und einem starken Geheimdienst gezeichnet ist. Ist es nicht absurd, dass gerade diese Armee am besagten Tag versagt hat? Wo sind die zur Verfügung stehenden Informationen gelandet? Wurden sie absichtlich nicht ernst genommen, weil sie von Frauen kamen? Wie emanzipatorisch ist eine Armee, die stolz darauf ist, einen so hohen Frauenanteil, auch in hohen Positionen, zu haben, wenn patriarchale Strukturen intern nicht reflektiert werden? 

Wenn Tatzpitaniyot während ihrer Schicht die Augen vom Bildschirm nehmen und ihre Arbeit nicht richtig ausüben, müssen sie im besten Fall länger auf der Basis bleiben und im schlimmsten Fall ins Militärgefängnis. Welche Strafe erhalten diejenigen, die jahrelang weggeschaut haben und somit 1400 Menschenleben auf dem Gewissen haben, fragt die Schwester einer ermordeten Tatzpitanit im Gespräch mit Netanyahu. 

Bring them home now

Seit dem 7. Oktober vergeht kein Tag, an dem Noa nicht an die ermordeten und verschleppten Kolleginnen und Freundinnen denkt. Dass die meisten ihrer abgeschickten Nachrichten nie beantwortet werden, ist ein Schmerz, mit dem Noa so wie Tausende Angehörige in Israel lernen müssen, umzugehen. Für Noa ist klar, dass Karina und Daniela, mit denen sie ihren Armeedienst als Tazpitaniyot gemeinsam gestartet hat, bald wieder nach Hause kommen müssen. 

Sophie Orentlikher

Hinterlasse einen Kommentar