„Die haben es sicherlich genauso  satt in der Scheiße zu sitzen, wie wir es satt haben, im Sand zu laufen.”

„Die haben es sicherlich genauso  satt in der Scheiße zu sitzen, wie wir es satt haben, im Sand zu laufen.”

– Ein Lone Soldier der IDF im Interview

In Deutschland geboren und aufgewachsen, beschloss Markus nach seinem Schulabschluss nach Israel auszuwandern und dem israelischen Militär beizutreten. Kurz vor dem Ende seiner Grundausbildung verübte die Hamas das Massaker vom 7. Oktober. Aufgrund des darauf folgenden und andauernden Krieges wurde er seither mehrmals in den Gazastreifen einberufen.

NOODNIK: Markus, du bist „Lone Soldier“ im israelischen Militär, heißt: Du bist nicht aus Israel, hast dich dennoch dazu entschieden, einen freiwilligen Militärdienst in Israel zu leisten. Wie kam es dazu?

Markus: Nach der Schule habe ich ein Freiwilligenjahr im Norden Israels, in Naharia, absolviert, wo es jetzt täglich Raketen- und Drohnenalarm gibt. Dort habe ich mit behinderten Menschen zusammengearbeitet und den Tag verbracht. In diesem Jahr habe ich das Land lieben gelernt. Als ich mich entschied, nach Israel auszuwandern habe ich mich auch ein bisschen gezwungen gefühlt: Mir war bewusst, dass man in der israelischen Gesellschaft, z.B. beim Einstieg in den Berufsalltag, schlechter angesehen wird, wenn man nicht in der Armee war. Dennoch wollte ich auch einfach das Land verteidigen und unterstützen. Im Frühjahr bin ich ausgewandert und ein halbes Jahr später ins Militär eingestiegen.

N: Kurz vor Ende deiner Ausbildung geschah der 7. Oktober, der für Jüdinnen und Juden weltweit ein massives Trauma auslöste. Für dich hatte dieser Tag noch die zusätzliche Implikation, dass du womöglich bald in einen Krieg einziehen wirst.

M: Richtig.

N: Wie kommt man mit dieser Erkenntnis klar?

M: Wenn nicht wir, wer dann? Wären auf einmal alle Leute aus der Armee ausgetreten, würden wir nicht mehr existieren. Es ist vor allem die Motivation, das Land zu verteidigen, aber auch zu erfahren, wie sich die gesamte Zivilbevölkerung auf deine Seite stellt. Wenn die Leute Soldaten sehen, verstehen sie: „Okay. Der passt auf mich auf.“ Das gab mir die Motivation zu sagen: „Auch wenn es gefährlich wird, gehe ich rein, mache meine Arbeit, so wie ich für acht Monate ausgebildet wurde“. Wenn du deine Arbeit richtig machst, dann passiert dir nichts und dann gehst du auch mit einer bestimmten Ruhe rein. Wenn mir meine Offiziere sagen, ich soll nicht auf ein Dach, weil dort ein Hamas-Sniper sein könnte, dann gehe ich nicht aufs Dach.

N: Wie hast du den 7. Oktober wahrgenommen?

M: Ich war aufgrund meiner Ausbildung im Westjordanland, um in einer Siedlung zu patrouillieren. Rund herum sind palästinensische Städte, die morgens und abends auf die Siedlung schießen. Um 5:00 Uhr in der Früh sagte mein Kommandant zu mir, dass es eine Möglichkeit auf Krieg gäbe. „Okay, wann nicht?“, dachte ich mir. Als ich um 6:30 Uhr die ersten Videos sah, war ich schockiert: „Das kann nicht sein. Es kann nicht sein, dass Terroristen in Sderot sind.” Die Zeit verging und die Raketen flogen weiter. Du fängst an, von Leuten zu hören, die geschlachtet wurden und von Freunden, die dort waren und überlebt haben. Du hörst von Leuten, die dort Menschen gerettet haben und von den Taten, die von der Hamas begangen wurden. Ich wusste, dass meine Freunde gerade in der Nähe des Gazastreifens auf einer Basis sind und ging davon aus, dass sie möglicherweise ihr Leben verloren haben. Erst ein paar Tage später erhielt ich die Nachricht, dass sie in Ordnung sind. Freunde von meinen Freunden haben sehr, sehr viele Bekannte und Freunde verloren, vor allem in den Armeebasen.

N: Es gab in den letzten Monaten immer wieder Übergriffe von ultra-nationalistischen Siedlern auf palästinensische Ortschaften in der Westbank. Kriegt man das mit, wenn man dort als Soldat patrouilliert?

M: Ja. Nicht, dass ich das oft gesehen habe. Ich war einmal kurzzeitig auf einem Hügel in der Westbank stationiert, auf dem nach biblischem – was weiß ich was – Juden waren. Dort leben zwanzig, dreißig Siedler in Wohnwägen. Wir mussten sie verteidigen, da es jeden Moment sein konnte, dass auf sie geschossen wurde. Aber wir mussten auch darauf schauen, dass sie keine Steine in das angrenzende arabische Dorf runterrollen. Einmal gab es die Situation, in der ich ihnen sagen musste „Shomim (Übersetzung: „Hört zu“), geht mal einen Schritt zurück, provoziert die nicht und schmeißt da nichts runter.“ Ein großer Stein, der runterrollt, kann ja einen Menschen töten. Aber sonst höre ich das nicht oft. Wenn ich in Gaza bin – und das war ich gefühlt die ganze letzte Zeit – sind die einzigen Dinge, die ich höre, Lieder, Raketen und Nachrichten: Was haben wir im Libanon gemacht? Was haben wir in Gaza gemacht? Was ist auf der Welt gegen uns passiert? Was haben wir auf der Welt gemacht? Das war‘s.

N: Du hast immer wieder von der Motivation gesprochen, „das Land“ zu verteidigen.  Du meinst dabei ja nicht Deutschland. Aber du bist ein Jude aus Deutschland. Wie kann man das verstehen und woher kommt diese Motivation?

M: Nicht, dass es meine größte Motivation war, aber ich wurde zeitweise auf der Realschule gemobbt und beleidigt. Wenn dir als Siebtklässler „Zyklon B“, „Scheiß Jude“ und „Ihr hättet alle in der Gaskammer…“ hinterhergerufen wird – heutzutage geht das bei mir bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus. Als ich auf ein Gymnasium wechselte, konnte ich etwas offener mit meinem Judentum umgehen. Während meinem Freiwilligenjahr 2021 flogen dann Raketen aus dem Gazastreifen und Israel schlug zurück. Ganz viele Leute, mit denen ich zuvor in die Schule gegangen war, fingen an zu posten, dass Israel dieses und jenes getan haben soll. Anfangs habe ich immer geantwortet: „Hör mal, bist du oder ich gerade hier? Wenn du wirklich wissen willst, was passiert, dann schreib mir. Aber poste nicht irgendwelche Sachen, von denen du keine Ahnung hast.“ Ab irgendeinem Moment habe ich einfach beschlossen: „Unfollow, Unfollow, weg, weg, weg, weg“, wie bei Tinder. Diesen ganzen Hass, den wir abbekommen, wollte ich als Energie nutzen. Das gab mir die erste Motivation, nach Israel auszuwandern und in die Armee zu gehen.

N: Du hast erwähnt, dass du im Gazastreifen warst. Wie kann man sich die Situation dort vorstellen, wie operiert die Hamas?

M: Die Taktik der Hamas im Gazastreifen ähnelt jener des 7. Oktobers: Viel Ablenkung, damit sich alle verstecken und dann kommen sie auf dich zu. Ich kenne viele Leute, die Angesicht zu Angesicht gegen die Hamas kämpfen mussten, was mir zum Glück nie passiert ist. Nach einem Jahr Konflikt sind nun 99 % der Köpfe der Hamas abgeschnitten, ohne, dass neue nachwachsen. Es gibt kaum mehr konkrete Befehle an untergeordnete Kämpfer der Hamas. Dort wo die Hamas nicht organisiert ist, versucht sie nun mit kleinen Stichen wehzutun und uns aus der Ruhe zu bringen. Sei es mit ein paar Schüssen in deine Richtung oder mit Sprengstoff. Am Anfang haben sie auch noch Tunnel und Kampfübergänge zwischen Häusern genutzt, um ungesehen von A nach B zu kommen. Diese werden langsam, aber sicher von uns zerstört.

N: Israel erklärte, mit der Offensive im Gazastreifen der Hamas militärisch das Handwerk legen zu wollen. Der aktuelle Krieg läuft nun seit über einem Jahr ohne absehbares Ende. Ist das deklarierte Ziel, die Hamas zu besiegen, überhaupt umsetzbar?

M: Ich denke nicht, dass das möglich sein wird. Es wird immer gesagt: „Ach, die behaupten, dass sich die Hamas unter die Zivilisten mischt. Das stimmt doch nicht.“ Doch es stimmt, und zwar sowas von. Die sind im gesamten humanitären Korridor unterwegs und stehlen sehr viel von der humanitären Hilfe. Ich hoffe, dass es möglich sein wird, die Hamas zu besiegen, aber sie behält weiterhin finanziell die Oberhand im Gazastreifen. Das hört man vielleicht nicht in den Nachrichten, aber die Hamas wirbt die ganze Zeit um neue Kämpfer. Sie bieten ihnen Geld und sagen: „Hier hast du eine Waffe, geh da hin, mach was wir dir sagen, damit deine Familie etwas essen kann.“ Ich hoffe, dass das bald zu Ende geht. Die Zivilisten haben es sicherlich genauso satt in der Scheiße zu sitzen, wie wir es satthaben, dort im Sand zu laufen.

N: Auch wenn unbestritten ist, dass die Hamas ihre Zivilbevölkerung als Schutzschilder missbraucht, kommen immer wieder Zweifel an Darstellungen der IDF auf. So auch beim Vorfall rund um das Al-Shifa Krankenhaus. Befindet sich die Hamas tatsächlich in Schulen und Krankenhäusern?

M: Ich war zwar nie in der Nähe von Al Shifa, aber im Norden des Gazastreifens. Zu Beginn des Krieges haben alle Hilfe in Schulen gesucht. Wir sind hingekommen und haben über Lautsprecher gesagt: „Wir sind hier. Wer seid ihr? Alles gut, wir haben keine schlechten Informationen über euch.“ Den Männern wurde gesagt, dass sie alles außer der Unterhose ausziehen sollen, weil wir überprüfen mussten, dass sie keine explosiven Geräte mit sich tragen. Danach bekamen sie von uns Kleidung. Diese Befragungen haben bei sehr vielen Menschen ergeben, dass sie „Nukhba“ (Anmerkung: Spezialeinheit der Hamas) sind, am 7. Oktober in Israel waren, palästinensischer Dschihad oder Hamas sind oder von denen wir wissen, dass sie Raketen geschossen haben. Nachdem alle rausgekommen waren, sind wir in die Schule rein, um zu überprüfen, dass dort niemand mehr ist. Genau in der Mitte dieses Schulkomplexes: Ein Tunnel. Wirklich, die erste Schule, zu der ich gegangen bin. Ich habe direkt verstanden: „Okay, die machen das so.“

N: Die Hamas konnte ihre Intentionen über Jahre hinweg verdecken, weil sie den Eindruck erweckt hatte, ein „wohlhabendes Leben für Gaza“ zu wollen, wie die New York Times nun berichtet. Wenn ich dich richtig verstanden habe, machst du den Weg, die Hamas zu besiegen, darin aus, ihnen die finanziellen Mittel abzuschneiden.

M: Der erste Fehler, den wir als Land und Armee gemacht haben, war, in den Norden und nicht nach Rafah reinzugehen. Wir hätten zuerst der Hamas den Landweg nach Ägypten abschneiden sollen, wie wir es mittlerweile tun. Da kommt gerade nichts mehr rein: Keine Waffen, kein Sprengstoff, keine Raketenwerfer, keine Granaten, kein Geld. Das Geld, das im Gazastreifen bleibt, zirkuliert. Die humanitäre Hilfe, die in den Gazastreifen kommt und von Israel und anderen Ländern stammt, wird ja eigentlich kostenlos verteilt. Sehr viel dieser humanitären Hilfe wird von der Hamas gestohlen und weiterverkauft. Mit diesem Geld bezahlen sie wiederum, dass ein Sohn eine Waffe bekommt und für die Hamas kämpft.

N: Zum aktuellen Zeitpunkt sind 1,9 Millionen Menschen in Gaza vertrieben und fast zwei Drittel aller Gebäude zerstört. Israel schätzt 17.000 bis 18.000 Hamas-Kämpfer und in ähnlichem Ausmaß Zivilist:innen getötet zu haben. Das deckt sich mehr oder weniger mit palästinensischen Angaben, die von über 40.000 Toten sprechen. Nimmt man als israelischer Soldat diese humanitäre Krise wahr?

M: Ja, ich bin mir bewusst, dass die Leute dort schlecht leben und es eine humanitäre Krise gibt. Ich finde es scheiße, dass das passiert. Ich weiß aber auch, wer in dieser humanitären Krise bestimmt: Weiterhin eine Terrororganisation. Es gäbe keine humanitäre Katastrophe, wenn nicht eine Terrororganisation von ihrer Zivilbevölkerung Geld für diese humanitäre Hilfe verlangen würde, oder bestimmt, wer wie viel Essen erhält.

N: Die Nahrungsunsicherheit ist nur ein Punkt. Der andere ist, dass 60% von Gaza zerstört ist und 90% der Bevölkerung als Binnenflüchtlinge leben.

M: Das stimmt und habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich muss auch ehrlich sagen, dass ich als Soldat an der Zerstörung einer Handvoll Gebäude beteiligt war. Aber im Endeffekt arbeitet eine Armee, die sehr genau weiß, was sie für die Sicherheit der eigenen Soldaten tut, auf diese Art und Weise. Wenn du in ein Gebäude gehst, möchte die israelische Armee zu 100 % sichergehen, dass es keinen Sprengstoff an der Tür, Wand oder am Boden gibt. Dazu kommt, dass jedes Gebäude, in dem ich war, nicht aus Beton, sondern aus „Block“ ist. Du kannst mit einem Hammer fünf Minuten auf eine Wand einschlagen und sie ist weg. Durch die schlechte Bauweise und die vielen Luftangriffe ist alles so instabil, dass beim Beschuss eines Gebäudes auch Häuser, die mehrere hundert Meter entfernt sind, so stark anfangen können zu wackeln, dass sie einstürzen.

N: Israel wollte durch die Offensive im Gazastreifen auch die von der Hamas gehaltenen Geiseln befreien. Ein Jahr später verbleiben noch immer 101 Geiseln im Gazastreifen. Hat Israel die Fähigkeit, sie militärisch zu befreien?

M: Militärisch nicht, meiner Meinung nach. Wir müssen versuchen, es politisch zu klären. Die sechs Geiseln, die zuletzt in Rafah gefunden wurden, wurden ja erst wenige Stunden zuvor getötet, weil die Hamas wusste, dass wir näherkommen. Wahrscheinlich ist das die neue Anweisung: Geiseln töten, wenn die IDF näherkommt. Dann sollten wir nicht näherkommen. Das Problem ist auch: Es wurden so viele hohe Offiziere getötet, dass es niemanden mehr gibt, mit dem wir über die Geiseln reden können.

N: Die Konfliktgeschichte in diesem Gebiet reicht weit zurück. Nachdem die Westbank für 20 Jahre von Jordanien okkupiert war, besteht die israelische Besatzung dort nun seit fast 60 Jahren. Glaubst du, dass es eine friedliche Lösung für diesen Konflikt geben kann, solange ein Volk ein anderes besetzt?

M: Was passiert, wenn wir aus dem Westjordanland rausgehen? Genau die gleiche Sache. Zu 100 %. Du hast Jenin, Nablus, Ramallah, Hebron. Jericho. Du hast zig Großstädte dort und tausende von Terroristen, gegen die wir aktuell bereits vorgehen müssen. Wieso sollte das, was in Gaza passiert, nicht auch in der Westbank passieren? Du hättest dann nicht wie im Gazastreifen einen Fleck, der Israel angreift, sondern ganze Städte. Um die Frage zu beantworten: Ja, ich denke, wir sollten dort nicht sein, aber das sage ich als jemand, der nicht religiös ist und dessen Verbindung zu Israel nicht durch die Torah, sondern durch die Menschen kommt. Aber um Friedensgespräche führen zu können? Ja, man sollte die illegalen Siedlungen meiner Meinung nach verbieten. Aber ich habe da auch wenig Ahnung. Es würde z.B. auch uns Soldaten ein bisschen besser schützen. Dann müssten wir nicht an jedem Checkpoint Schmiere stehen. Wenn wir nicht im Krieg sind, machen wir vor allem das.

N: Markus, vielen Dank für deine Zeit. Irgendwann wird dein Armeedienst enden. Was ist dein Plan für danach?  

M: Israelische Soldat:innen machen ja oft diesen „Tiyul gadol“, die große Reise. Es zieht alle nach Südamerika. Ich will vielleicht einen Roadtrip machen, vor allem möchte ich nach Japan und in die USA. Danach werde ich wahrscheinlich Biochemie studieren.

Interview: Alon Ishay

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