„Jeder hat sein Auschwitz”

„Jeder hat sein Auschwitz”

Eine kritische Einordnung der chassidischen, burschenschaftlichen und bürgerlichen Obsessionen mit Viktor Frankl

Den eifrigen Beobachter:innen österreichischer Innenpolitik wird die Ernennung Walter Rosenkranz’ zum Präsidenten des Nationalrats nicht entgangen sein. In seiner ersten Rede machte der frisch gewählte und erstmals blaue zweithöchste Politiker der österreichischen Republik klar, das „jüdische Leben brauche sich vor ihm nicht fürchten”. Dass er nur zwei Wochen später erfolglos versuchte, die Menschenkette jüdischer Studierender bei einer Holocaust-Gedenkstätte polizeilich räumen zu lassen, zeigte auf eine misslungene „Continuity” dieser aufkeimenden Rosenkranz-Saga. An einer anderen Stelle ergab sich jedoch eine konstante Erzählung: Wie bereits bei seiner Antrittsrede ließ er sich auch bei seinem unfreiwilligen Abgang vom Judenplatz nicht davon abhalten, auf den Namen seines Lieblingsjuden zu verweisen: „Denken Sie an Viktor E. Frankl, er ist ein größerer Österreicher!” Um nachzuvollziehen, weshalb dieser 1905 in der Wiener Leopoldstadt geborene Psychiater und Begründer der „Logotherapie” Viktor Emil Frankl für die unterschiedlichsten Menschen, gerade auch für ehemalige Nationalsozialisten und rechtsextreme Burschenschafter, zum Vorzeige-Holocaust-Überlebenden wurde, benötigt es zunächst einen Blick in dessen überaus tragische wie ambivalente Biografie. 

„Lobotherapie”

Während der Shoah wurden Frankls Eltern Gabriel und Elsa Frankl, die er trotz der Möglichkeit in die USA zu emigrieren nicht zurücklassen wollte, sowie sein Bruder Walter in Auschwitz ermordet. Seine Ehefrau Tilly Großer, die unter Zwang ihr gemeinsames Kind abtreiben musste, starb 1943 im KZ Bergen-Belsen. Frankl selbst überlebte mehrere Konzentrationslager und veröffentlichte bereits 1946 sein Werk Ein Psycholog erlebt das Konzentrationslager, in dem er seine Erfahrungen und Reflexionen über die erlebten Grausamkeiten festhielt. Erst über ein Jahrzehnt später erlangte sein Buch in Zweitauflage unter dem Titel Trotzdem Ja zum Leben sagen größere Aufmerksamkeit und zählt mit zwölf Millionen verkauften Exemplaren heutzutage zu den erfolgreichsten Büchern aller Zeiten. Frankl sah sich nach der Shoah mit der Entscheidung konfrontiert, „einen Strick zu nehmen und sich aufzuhängen”, oder aber am „bedingungslosen Glauben an einen letzten Sinn” festzuhalten, der „da wäre”, wenn auch verborgen. Obwohl es naheliegend wäre, Frankls Beharren auf die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Leben und Leid, die sich auch in seiner „Logotherapie” wiederfindet, alleinig als Konsequenz seines Shoah-Traumas auszumachen, greift diese Erklärung zu kurz. So gehörten bereits im Rahmen seines Medizinstudiums Depression und Suizid zu Frankls Schwerpunktthemen, für dessen Behandlung er früh die „Sinnfrage” als zentral erachtete. Als er im Zuge des österreichischen Anschlusses nicht mehr in der Lage war, wie zuvor als Oberarzt selbstmordgefährdete Frauen zu betreuen, nahm er eine Anstellung als „Judenbehandler“ im Rothschildspital an, dem einzigen Krankenhaus, in dem in Wien noch jüdische Patient:innen behandelt wurden. Wie sich Jahrzehnte später herausstellte, unternahm Frankl in seiner Funktion als Leiter des neurologischen Instituts – ohne jegliche hirnchirurgische Ausbildung – höchst fragwürdige Experimente. So führte er Lobotomien und Trepanationen an verstorbenen Jüdinnen und Juden durch, die angesichts ihrer bevorstehenden Deportation und Vernichtung Selbstmord begannen hatten, in dem Versuch, diese wiederzubeleben. Dabei wurde er vom nationalsozialistischen Establishment unterstützt, das ihn in der Hoffnung, seine Erkenntnisse an den eigenen Soldaten erproben und nutzen zu können, dazu ermutigte, seine Ergebnisse zu publizieren. Ausgerechnet im September 1942, als Frankl nach Theresienstadt deportiert wurde, wurden seine Untersuchungen in der Schweiz veröffentlicht. 

Mystifizierung des Leides

Frankls radikaler Glaube an einen „letzten Sinn”, der offenbar kein sinnloses Leid kennt, umschreibt er in einer ORF-Reportage vom 13. März 1994 damit, dass es „keine einzige Lebenssituation” gäbe, die sich „nicht in eine sinnvolle Leistung umwandeln” ließe. Diese religiös-mystische Haltung, die sich nicht zuletzt auch in den erwähnten Experimenten an toten Jüdinnen und Juden manifestierte, war bereits lange vor der NS-Zeit integraler Bestandteil von Frankls Weltbild und macht verständlich, weshalb beispielsweise auch „Chabad-Lubawitsch”, eine der größten chassidischen Strömungen weltweit, dermaßen von Frankl fasziniert ist: Für sie stellt er eine Personifizierung Hiobs dar, also demjenigen, der trotz allen Leidens niemals den Glauben verliert. Chabad hat auf ihrer Website dem Existenzanalytiker Frankl sogar einen eigenen Blogbeitrag gewidmet, der dessen Logotherapie als „Philosophie, die letztlich den Glauben an Gott und eine spirituelle Perspektive fördert” beschreibt – was zugleich der viel geäußerten Kritik an eben jener psychotherapeutischen Schule entspricht. So ist die Logotherapie etwa in Deutschland aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Evidenz nicht kassenärztlich anerkannt. Der erwähnte ORF-Beitrag enthält auch ein Interview mit Elisabeth Lukas, eine der bekanntesten Nachfolgerinnen Frankls. Darin beschreibt sie ein gemeinsames Gespräch, in dem sie ihm gegenüber äußerte, er sei „so glaubwürdig durch das, was er gelebt habe” und, dass er „ohne Hass und versöhnt herausgekommen” sei. Danach gefragt, wie seine „Schüler das glaubhaft machen sollen, die nicht alle durch ein Konzentrationslager gehen können”, antwortete er: „Ach, Frau Lukas, jeder hat sein Auschwitz.” 

Instrumentalisierte Versöhnung

In dieser grotesken, universalistischen Relativierung des Holocaust ist eine Bandbreite an Motiven zu erkennen, die verdeutlichen, weshalb Frankl nach wie vor so prominent als Feigenblatt angeführt wird: Von Waldheim und Haider bis Rosenkranz ist er Bestätigung für jede einzelne Argumentationslinie der österreichischen Schuldabwehr. So wandte sich Frankl seiner Zeit vehement gegen den Begriff der „Kollektivschuld”, da man „niemanden verantwortlich machen” könne „dafür, was sein Vater oder seine Großmutter getan” habe. Diese Umdeutung von Kollektivschuld zur „Vererbung von Schuld”, von der es gilt, sich zu lösen, wird nach wie vor häufig im Rahmen rechtsextremer „Schlussstrichthesen” geäußert. Stattdessen vermochte Frankl nur von „persönlicher Schuld” zu sprechen. In diesem Sinne teilte er in Trotzdem Ja zum Leben sagen die Menschheit in die ”Rassen der Anständigen und Unanständigen“, wobei er festhielt, dass „es den einen oder anderen anständigen Kerl eben auch unter der Wachmannschaft” gab. 

Letztendlich erteilt Frankl in seiner Autorität als Holocaust-Überlebender also jeglichem Partikularismus von Antisemitismus und Shoah eine Absage. Bestehende Kategorien von Täter und Opfer werden vollkommen aufgelöst und obendrein mutiert in Frankls Logotherapie der industrielle Massenmord in Auschwitz zum sinnverwirklichenden Ereignis. Zudem sprach sich Frankl immer wieder für eine „Versöhnung” aus, in der schlussendlich die rechtsextrem-burschenschaftliche mit der bürgerlichen Schuldabwehr zusammenfließt: Alle Österreicher:innen atmen beruhigt auf, wenn der Jude Frankl Hand in Hand mit ihnen den Holocaust hinter sich lassen möchte.  Auch wenn Versöhnung nett klingen mag, ist dieser Begriff im Kontext der Shoah für sich genommen bereits ein Affront. Er impliziert eine beidseitige Verantwortung und versucht letztlich, die Kindergarten-Weisheit „zum Streiten gehören immer zwei” auf den systematischen Massenmord an Jüdinnen und Juden zu übertragen. 

Bei aller Kritik muss dennoch klar sein, dass der Versöhnungsgedanke bei Frankl aus einer gänzlich anderen Motivation stammte als bei Rosenkranz, Haider oder Waldheim. Ihnen war vor allem daran gelegen, den Begriff der Versöhnung und die Person Frankl selbst zu instrumentalisieren, um den eigenen Antisemitismus und die österreichische Mitschuld am Holocaust zu kaschieren. Dem hätte Frankl sicherlich nicht zugestimmt. Er distanzierte sich zu Lebzeiten von Jörg Haider  und pflegte auch sonst keine Kontakte zur FPÖ. Auch wenn es also viel an Frankl zu kritisieren gibt, liegt dennoch auf der Hand, dass er am 8. November 2024 keinesfalls auf der Seite von Rosenkranz gestanden wäre. 

ALON ISHAY

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