Judentum und Antifaschismus in der Vergangenheit und Zukunft
Als junge Wiener Jüdin und Nachfahrin dritter Generation von Shoah-Überlebenden sind mir die Werte, mit denen ich aufgewachsen bin, sehr wichtig. Eines Tages möchte ich diese auch meinen Kindern weitergeben und ihnen beibringen, was es heißt, Antifaschist:in zu sein und welche Konsequenzen es birgt, wenn man dies nicht ist.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schien ein Neuanfang in Europa für viele Shoah-Überlebende undenkbar. Dennoch kehrten sie zurück – mit einem konstanten Misstrauen gegenüber der restlichen Bevölkerung und “gepackten Koffern” für den Fall, wieder fliehen zu müssen. Österreich traf nach 1945 zwar Maßnahmen zur Entnazifizierung, wie das Verbot nationalsozialistischer Propaganda und Handlungen, beschäftigte sich jedoch nicht mit der eigenen Mittäterschaft, sondern verweilte in der Selbstwahrnehmung als “erstes Opfer” der Nationalsozialisten.
Wendepunkte
Einen Wendepunkt brachte die Borodajkewycz-Affäre im Jahr 1965. An der Wiener Hochschule für Welthandel unterrichtete Taras Borodajkewycz, der mit antisemitischen Bemerkungen hervorstach und schon vor dem „Anschluss“ 1938 ein „illegaler“ Nazi war. Einer seiner Student:innen, Ferdinand Lacina, der später sozialdemokratischer Finanzminister wurde, hielt seine Bemerkungen in einer Mitschrift fest. Im nächsten Jahr publizierte der spätere Bundespräsident Heinz Fischer die Mitschriften anonym, um Lacinas Studienabschluss nicht zu gefährden. Borodajkewycz zeigte Heinz Fischer wegen Ehrenbeleidigung an und gewann. Der Kabarettist Gerhard Bronner parodierte die Mitschriften der Vorlesungen des Professors in seiner beliebten TV-Sendung „Zeitventil”, womit er auch das Interesse der Öffentlichkeit erlangte. Am 31. März 1965 kam es zu einer Demonstration, bei der der ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem rechtsradikalen Studenten niedergeschlagen wurde. Er erlag später seinen Verletzungen. Dieser Fall zeigt, dass sich zumindest in den Köpfen der Menschen an den Universitäten nichts geändert hat, wie man bei antisemitischen Vorfällen wie gewohnt zur Tagesordnung weitergeht, bis es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt.
Die Waldheim-Affäre 1986 entfachte eine öffentliche Debatte um Österreichs „Opferthese”. Kurt Waldheim, ehemaliger UN-Generalsekretär, kandidierte für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten. Er hatte in seiner Biografie verschwiegen, dass er 1942 nach Saloniki zur Heeresgruppe E der deutschen Wehrmacht versetzt worden war, die sich auch an der Deportation der jüdischen Bevölkerung beteiligte. Waldheim selbst gab an, nur seine Pflicht getan zu haben. Fred Sinowatz, Bundeskanzler von Österreich von Mai 1983 bis Juni 1986, merkte damals spöttisch an: „Ich stelle fest, dass Kurt Waldheim nie bei der SA war, sondern nur sein Pferd.“ Daraus entstand die Idee eines trojanischen Holzpferdes, das von Alfred Hrdlicka entworfen wurde und fortan oft als Protestsymbol bei Waldheims öffentlichen Auftritten zu sehen war. Heutzutage ist das Holzpferd im Haus der Geschichte Österreich ausgestellt.
Jüdische Antifaschist:innen
Inmitten dieses ewig anhaltenden, postnazistischen Status quo gab es jedoch mutige jüdische Antifaschist:innen, die sich für eine gerechte Erinnerung einsetzten: Rudolf Gelbard wurde am 4. Dezember 1930 geboren, hat die Novemberpogrome 1938 in Wien miterlebt und wurde später mit seinen Eltern in das KZ Theresienstadt deportiert. Er gehörte zu den wenigen Kindern, die dieses KZ überlebten. Nach der Befreiung holte er seine Schulbildung nach, wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Freiheitskämpfer, beobachtete als Redakteur des Kurier die Neonazi-Prozesse und hielt als Zeitzeuge Vorträge an Schulen.
Ein weiterer jüdischer Antifaschist, Ernst Fettner, wurde 1921 geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs Fettner in einem jüdischen Waisenhaus auf. Am Abend des 9. November arbeitete er in einer Schneiderei, als die Nationalsozialisten kamen, um ihn und die anderen Männer dort zu verhören. Er sagte, er sei Kommunist und wurde daraufhin ins Gestapo-Quartier am Morzinplatz gebracht. Als er wieder freigelassen wurde, machte er sich auf den Weg nach Großbritannien, wo er sich „Young Austria“ anschloss, einer überparteilichen Bewegung für ein freies Österreich und trat letztendlich der britischen Armee bei, um gegen die Nazis zu kämpfen.
Simon Wiesenthal wurde 1941 nach dem Überfall der Sowjetunion durch die deutsche Wehrmacht verhaftet, er versuchte wiederholt zu fliehen und war in mehrere Konzentrationslagern, bis er durch die US-Armee aus dem KZ Mauthausen befreit wurde. Im Jahr 1947 gründete er die Dokumentationsstelle Jüdische Historische Dokumentation, die Zeug:innenaussagen und Beweismittel zu NS-Täter:innen sammelte und an Gerichte weiterleitete. Während des Kalten Krieges wurde die Einrichtung aufgelöst, aber Wiesenthal arbeitete weiter an der Verfolgung von NS-Verbrechern.
Die nächste Generation
Dieser Antifaschismus gehört zu den „jüdischen“ Werten, die ich meinen Kindern weitergeben möchte. Wenn versucht wird zu erklären, was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind, dann ist es unerlässlich zu erläutern, dass diese auch beschützt werden müssen. Dazu gehören Mut und Empathie und Menschen, die illiberale Tendenzen erkennen und klar benennen können, auch wenn alle anderen es nicht tun. Denn bloß hübsche Phrasen zu wiederholen, ist kein Schutz und keine Prävention. Es braucht politische Arbeit, Zivilcourage, Bildungsarbeit und Menschen, die auf die Straße gehen. Das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung.
Bald wird es keine Zeitzeug:innen mehr geben und als junge jüdische Aktivist:innen müssen wir uns fragen, wie wir ihr Andenken ehren möchten. Sie haben uns, trotz des Traumas, von den Gräueltaten, die ihnen widerfahren sind, erzählt. Das war Teil ihres Widerstand. Sie sind Opfer des Nationalsozialismus gewesen, aber wir erinnern uns an ihren Mut und ihre Stärke, an ihren Glauben daran, dass eine bessere Welt möglich ist. Diese Arbeit werden wir fortführen, denn das ist auch unser Widerstand.
Esther Györi