Österreich, du (erstes) Opfer!
Österreich liebäugelt seit dem 19. Jahrhundert mit der deutschnationalen Ideologie und hat bis heute nicht damit aufgehört. Postnazismus, Opfermythos und die FPÖ sind keine Schönheitsfehler, sondern fester Bestandteil der II. Republik. Der Versuch einer (historischen) Einordnung.
In Österreich wird nicht nur gerne Punschkrapferl gegessen, sondern es ist ein Punschkrapferl an sich. “Außen rot, innen braun und immer ein wenig betrunken.” Diesen Vergleich zieht der Schriftsteller Robert Menasse in seinem Essay Das Land ohne Eigenschaften. Bisweilen wird das Zitat auch Thomas Bernhard oder Erwin Ringel zugeschrieben. Der in Frankreich lebende und lehrende Germanist Gerald Stieg weist in seiner Abhandlung zur Alpenrepublik Sein oder Schein. Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss darauf hin, dass Österreichs Identität nicht so naturgegeben ist, wie viele es glauben. Natürlich könnte man diese Werke als von „Nestbeschmutzern geschrieben” abtun, jedoch zeigt sich schnell: Wirklich rühmlich wird selten über Österreich geschrieben. Dabei hätten wir’s doch so schön – Sozialleistungen, Sicherheit, ein halbwegs funktionierendes Pensionssystem und meih, so a schene Natur. Das ist uns besonders wichtig. Berge, Hügel, Seen und die vier Jahreszeiten sind nirgendwo anders schöner und wer etwas anderes behauptet, wird standrechtlich erschossen. Während viele sich in österreichischem Heimatkitsch verlieren – Wandern, Lachen und Schunkeln bis man betrunken von der Wirtshausbank fällt – braucht es nur einen etwas genaueren Blick, um viele dieser unschuldigen Traditionen als das zu enttarnen, was sie sind: Überbleibsel nationalsozialistischer und deutschnationaler Brauchtümer. Also genauso unschuldig wie Karl-Heinz Grasser.
Vorab für den urbanen Plebs unter euch, der nicht in der ländlichen Kultur versiert ist, eine kurze Erklärung, worum es sich bei einem “Frühschoppen” handelt: Man betrinkt sich gnadenlos in aller Früh, mit Bier oder Wein. Nicht so kompliziert, oder? Dieses Event wird oft von der örtlichen Blasmusik musikalisch untermalt. In jedem Bundesland wird dabei der Marsch Dem Land Tirol die Treue gespielt und auch der Text mitgesungen. Die zweite Strophe lautet wie folgt: „Ein harter Kampf hat dich entzwei geschlagen, von dir gerissen wurde Südtirol. Gott Sei Dank! Die Dolomiten grüßen uns von Ferne, in roter Glut zum letzten Lebewohl — Mit Alkohol!“. Dabei ist den meisten nicht bekannt, dass dieses Lied den Verlust Südtirols beklagt und dabei die „Einigkeit” Österreichs heraufbeschwört. Und denjenigen, denen es bekannt ist, ist es halt einfach wurscht. Denn das Tirol ist halt schön und die Südtiroler:innen sollen „Heim ins Reich”. Denn die Südtiroler:innen werden als Österreicher:innen gesehen. Und wenn wir Österreicher:innen meinen, dann meinen wir natürlich „deutschsprachig” und „deutscher Abstammung”. Eigentlich meinen wir sogenannte „Volksdeutsche”. Nur, so weit spinnt der Großteil der Bevölkerung diesen Gedanken nicht weiter. Nicht so sehr aus Klugheit, sondern weil man es nicht darf – so sagen das zumindest „die da oben“. Dieses Tiroler Treuelied ist eines der besten Beispiele für die Umtriebigkeit des deutschnationalen Gedankenguts in der österreichischen Gesellschaft. Mitsingen ist jedenfalls Pflicht, damit niemand glaubt, dass du ein Linker bist. Pflichtmäßig mitsingen liegt auch jenen FPÖ-Parlamentariern, die im September das SS-Treuelied bei einer Burschenschafter-Beerdigung anstimmten.
Von „Deutsch-Österreichern“ und eventuellen Faschisten
Eigentlich sollte es nicht so sehr um das Tirol gehen, sondern um die Burschenschaften. Jene Burschenschaften, die schon immer deutschnational waren und im 19. Jahrhundert angeblich für Bürgerrechte gekämpft haben, um dann Arierparagraphen einzuführen. Wir wissen, dass sie im Großteil der Bevölkerung kaum eine Rolle spielen, durch die FPÖ-Nationalratsmandate im österreichischen Parlament aber überrepräsentiert sind. Gemeinsam stehen Partei und Burschenschafter für das „Dritte Lager” in Österreich, sie sind gewissermaßen die Nachfolger der Vorläufer der Nationalsozialisten. Die FPÖ, die von schwer belasteten Nazis für schwer belastete Nazis gegründet wurde, ist also die Partei dieser deutschnationalen Burschenschaften – und nicht nur deswegen eine „Volksdeutsche” Nazipartei in einem Land, das nicht Deutschland ist und das es obendrein nie hätte geben sollen. Niemand in Österreich hat nach 1918 an das eigene Land geglaubt, bis es 1938 Teil des nationalsozialistischen Deutschlands wurde. Nach 1945 wurde wieder nicht an ein eigenständiges Österreich geglaubt. Nazi-Deutschland wurde besiegt und Österreich war erneut auf sich allein gestellt, fast so wie ein ungeliebtes Findelkind. Die Rechten reden zur Selbstberuhigung deswegen gerne von der Volksseele. Und was macht denn so eine turbulente und auch kränkende Vergangenheit mit einer Volksseele? Diagnose laut Volksmund: „Des wird nix mehr”.
Dieses Problem wurde bereits in der I. Republik evident. Die K. u. K Monarchie verlor 1918 den I. Weltkrieg und wurde aufgeteilt. Die vielen unterschiedlichen, nationalistischen Bestrebungen der einzelnen, sogenannten „Volksgruppen“ trugen Früchte und eine Reihe neuer Nationalstaaten wurde geboren. Darunter auch Deutschösterreich. 1919 musste Deutschösterreich sich dann aufgrund des Vertrags von Saint-Germain in Republik Österreich umbenennen und hat dazu auch noch versprechen müssen, dass es sich nicht an Deutschland anschließt. Das ist vermutlich die „hohe Last“ von der in der Bundeshymne gesungen wurde. Wie gesagt: Niemand glaubte an diese Republik. Weder die Vorgänger-Parteien der ÖVP, noch die der SPÖ – die übrigens bis zu ihrem Verbot unter dem Austrofaschismus 1934 „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs“ hieß. Die Austromarxist:innen witterten ihrerseits die Chance auf eine klassenlose Gesellschaft. Fun Fact: Bei der Ausrufung der ersten Republik hielten sie ein Banner hoch, auf dem stand: „Hoch die soziallistische Republik!“ Mit zwei L.
Diese I. Republik hielt jedenfalls nicht lange. Engelbert Dollfuß, der wie Karl Lueger aus dem Lager der Christlichsozialen (heute ÖVP) stammte, errichtete 1933 den „Austrofaschismus” und ließ die NSDAP verbieten. Zwar alle anderen Parteien auch, aber das ist Nebensache. Wir müssen uns unnötigerweise bis heute darum streiten, ob das jetzt wirklich Faschismus war oder nicht. Jedenfalls wollte er ein unabhängiges Österreich! Dollfuß wurde deshalb im Juliputsch 1934 von den Nazis erschossen und von seinem ebenso autoritären Nachfolger Schuschnigg ersetzt. Dieser wurde 1938 von Nazi-Deutschland de facto zum Rücktritt gezwungen und beschloss seine letzte Amtsrede mit den ikonisierten Worten „Gott schütze Österreich“. Dies ist einer der merkwürdigen Gründe, warum der Faschist Schuschnigg als „Widerstandskämpfer” in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin hängt.
Das erste Opfer
Jede historische Lüge wird irgendwann zuerst erzählt. 1943 trafen die Außenminister der drei großen alliierten Mächte USA, Großbritannien und der UdSSR in Moskau zusammen und schmiedeten den Plan für den „Tag danach”. Für den Tag, an dem Deutschland – das heutige Österreich inkludiert – in die Knie gezwungen sein würde. Dort wurde die Moskauer Deklaration unterschrieben und diese ist, gelinde gesagt, etwas unglücklich formuliert. Denn darin steht geschrieben, Österreich sei „das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer” gefallen sei und „von deutscher Herrschaft befreit werden” solle. Gratulation, der Opfermythos wurde geboren und damit auch die Idee, dass Österreich somit keine Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen haben kann. Österreich hat diese Zeilen so stolz hergezeigt wie ein Volksschulkind, das eine Entschuldigung seiner Mutter vorweisen kann, damit es vom Sportunterricht befreit wird. Blöd nur, dass in der Deklaration auch klar artikuliert wurde, dass „Österreich sich seiner Verantwortung für die Teilhabe an dem Krieg” stellen muss. Bei diesem Paragraphen litten wohl jene, die sich auf den Ersteren bezogen haben, plötzlich an einem akuten Fall des postnazistischen Analphabetismus.
Hitler da, Hitler dort – der Nationalsozialismus wurde nicht von einer einzigen Person getragen. Der mörderische Apparat der Nazis wurde von einem Großteil der Bevölkerung organisiert und es wäre nur rechtens gewesen, wenn jene, die an der Shoah und an den NS-Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren, ihre gerechte Strafe bekommen hätten.
Nun ist es jedoch so, dass in Demokratien leider auch (ehemalige) Nazis ein Stimmrecht haben. Dies war in Österreich ab 1949 wieder der Fall. Circa 90% der rund 550.000 österreichischen Parteimitglieder der NSDAP, also die, die als „minderbelastet” eingestuft wurden, durften wieder an die Urnen treten. Genau diese Stimmen wollten die SPÖ und die ÖVP für sich gewinnen, deshalb wollten sie nicht so streng mit den ehemaligen Nazis umgehen. Man wollte sie ja nicht verscheuchen!
Die dringend benötigte Entnazifizierung ging nur schleppend und unter dem Druck der Alliierten voran und nach deren Abzug 1955 wurden bereits durch die Volksgerichte verurteilte Nationalsozialisten en masse begnadigt. Viele kamen wieder in die Ämter, die sie vorher bekleidet hatten, wenn sie überhaupt jemals aus diesen enthoben wurden. Es gab de facto nur für die wenigsten Nazis Konsequenzen. “Reeducation”, wie in Deutschland, blieb aus. Denn das Leben ging weiter. Zumindest für die Deutschösterreicher.
Braune Kontinuitäten
Alle reden von „nationalsozialistischen Kontinuitäten“. Was das genau ist, wissen die wenigsten. Nationalsozialistische Kontinuitäten sind, dass die JöH auf ihrem 1947 ausgestellten Gründungsdokument von der österreichischen Behörde noch einen Stempel mit Adler und Hakenkreuz bekommen hat. Nationalsozialistische Kontinuitäten sind es, wenn ein 60-jähriger Linker – Ernst Kirchweger – während einer Demonstration gegen einen antisemitischen Professor 1965 von einem Rechtsextremen des „Rings Freiheitlicher Studierender“ (RFS) erschlagen wird. Nationalsozialistische Kontinuitäten sind es, wenn die FPÖ bis in die späten 1970er Jahre von SS-Veteranen angeführt wird und ab den 1990ern dank dem Nazi-Sohn Jörg Haider wichtige Wahlen gewinnt. Nationalsozialistische Kontinuitäten sind, wenn auf Grundlage des Opfermythos die Restitutionen an NS-Opfer absichtlich bis nach deren Tod hinausgezögert und erst ab 2001 umgesetzt werden. Nationalsozialistische Kontinuitäten sind es, wenn herauskommt, dass ein ehemaliger SA Angehöriger – Kurt Waldheim – eine Nazi-Vergangenheit hat, und nicht trotz, sondern genau wegen dieser noch 1986 zum Bundespräsidenten gewählt wird. Seine besonders österreichische Ausrede: Er hat nur seine Pflicht getan und eigentlich war nicht er bei der SA, sondern nur sein Pferd.
Die Waldheim-Affäre ist das Sinnbild. Sinnbild für den Postnazismus und für den Opfermythos, nach dem die Österreicher:innen keine Schuld am Nationalsozialismus hätten. Sinnbild dafür, wie egal es einem Großteil der Bevölkerung ist und dafür, dass immer nur ein kleiner Teil, vor allem Jüdinnen und Juden, sowie Intellektuelle, gegen den postnazistischen Status Quo angekämpft haben, ankämpfen und ankämpfen werden. Und gegen den Opfermythos, denn dass Österreicher:innen nur 8% der Bevölkerung des “deutschen Reiches” ausmachten, aber 70% von Eichmanns Stab, sowie 14% der SS-Angehörigen Österreicher waren, wie auch 40% des KZ-Personals, und sie damit überrepräsentiert in der Nationalsozialistischen Mordmaschinerie waren, wird konstant ausgeklammert. Die Geschichte ist nämlich des Öfteren nur so wahr, wie man sich an sie erinnert.
Gleichzeitig markiert die Waldheim-Affäre den Anfang vom Ende des Opfermythos. Heutzutage ist dieser immerhin kein totaler Konsens mehr, wie es bis in die 1990er Jahre der Fall war. Jedoch stimmen im Jahr 2024 immer noch ganze 43% der Alpenbewohner:innen der großen Geschichtslüge zu – eben die besonders Wiffen.
Entnazifiziert euch endlich!
Das hier ist kein Artikel über die FPÖ. Die FPÖ und ihre Untragbarkeit wurde zur Genüge diskutiert. Wir müssen den Diskurs größer denken. Es geht nicht (nur) um eine Partei, es geht um eine Mehrheit in der Bevölkerung, die diese Partei zur stimmenstärksten gewählt hat. Es geht auch darum, dass sich ein Großteil der ÖVP-wählenden Bevölkerung nicht daran stört, wenn Rechtsextreme an der Macht sind oder dies sogar gutheißt. Wir müssen den Diskurs also auf eine Bevölkerung schieben, die sich nie entnazifiziert hat und die nie entnazifiziert wurde. Die „ehemaligen“ Nazis haben in der zweiten Republik ein Schlaraffenland vorgefunden, in dem vielen eine Karriere hingelegen konnten, die sich gewaschen hat. Frei und (fast immer) ohne strafrechtliche Verfolgung. Denn wenn es zu Anklagen kam, wurden die meisten freigesprochen. Das Problem der FPÖ muss als ein gesamtgesellschaftliches betrachtet werden. Daher müssen wir über jene reden, die die Rechtsextremen gewählt haben. Dieser Diskurs muss ohne Infantilisierung und Paternalisierung geführt werden. Wir müssen die rechten Tirolerlieder-Österreicher:innen als das sehen, was sie sind: Das Produkt einer Gesellschaft, die nie holistisch ihre faschistische Vergangenheit aufgearbeitet hat. Wir dürfen nicht mit dem Finger auf Einzelne zeigen (außer es sind ganz arge Nazis), sondern aus der Geschichte heraus verstehen, dass diese Individuen ein Produkt eines Systems sind, in dem sie gedeihen und sich formieren können. Der Deutschnationalismus und der (Post-)Nazismus sind Grundsteine der zweiten Republik, die es zu zerschlagen gilt. Sie müssen allgegenwärtig, omnipräsent und die Gesellschaft durchdringend verstanden werden. Erst dann haben wir eine Erklärung. Eine Erklärung ist aber immer noch keine Lösung.
Chris Steinberger