WOMEN WAGE PEACE: Die Rolle von Frauen in Friedensbewegungen
Interview mit Angela Scharf
Women Wage Peace ist eine feministische Friedensbewegung, die sich für den Dialog zwischen Israel:innen und Palästinenser:innen einsetzt. Der Mittelpunkt ihrer Zusammenarbeit mit der palästinensischen Friedensbewegung Women of the Sun ist der gemeinsam formulierte Mother‘s Call: “We, Palestinian and Israeli women from all walks of life, are united in the human desire for a future of peace, freedom, equality, rights, and security for our children and the next generations.”
NOODNIK: Wie sind Sie zu Women Wage Peace gekommen? Was hat Sie dazu inspiriert?
AS: Ich wurde in Wien geboren und bin dann aus zionistischen Gründen nach Israel ausgewandert. In Jerusalem habe ich Politik und Islamwissenschaften studiert, weil es mir damals schon wichtig war, einen gemeinsamen Weg zu finden, um miteinander zu leben. Bei einer Konferenz von Haaretz habe ich jemanden von Women Wage Peace kennengelernt und bin dann zu einem Treffen gegangen. Ich habe klein angefangen und bin einmal im Monat mit einem Plakat an einer Kreuzung gestanden. Man hat mir gesagt: „Du pass auf, weil in dem Moment, wo du da mehr reinkommst, ist das wie ein Sog, der dich reinzieht”. Ich habe 2017 an einem Marsch teilgenommen und war fasziniert. Diese Energie von Tausenden von Frauen in Weiß und Türkis – das ist unsere Uniform. Seit 2018 sind wir einmal im Monat in die Knesset gegangen und haben jedes Mal mit einem anderen Abgeordneten der Knesset gesprochen. Unter der jetzigen Regierung haben wir nur noch sehr wenige Besuche gemacht.
N: Also wurden Sie wohl doch reingezogen. Möchten Sie ein bisschen mehr über den Anfang von Women Wage Peace und die Strukturen erzählen?
AS: Women Wage Peace wurde im September 2014 gegründet, nach dem Gaza-Krieg Protective Edge. Da haben sich ein paar Mütter zusammengetan und innerhalb von kurzer Zeit waren wir dann zu tausend. Heute haben wir ungefähr 50.000 Mitglieder, von denen etwa 1.000 aktiv sind. Unser Ziel ist, die beiden Regierungen dazu zu bringen, sich hinzusetzen und anzufangen zu diskutieren, natürlich unter Beteiligung von Frauen. Das entspricht der UN-Resolution 1325, die im Jahre 2000 von der UN verabschiedet wurde und verlangt, dass Frauen in Friedensprozesse miteinbezogen werden.
N: Ich möchte da gleich ansetzen und fragen, wie Sie die Rolle von Frauen in Friedensbewegungen sehen und, wie unterscheidet sich eine Friedensbewegung, die von Frauen geleitet wird, von anderen Bewegungen und Organisationen?
AS: In unserer Bewegung haben wir nicht nur Frauen, sondern auch einige Männer, aber zu 99 Prozent sind wir Frauen. Wir sind der Meinung, dass Frauen einfach einen anderen Blick in Verhandlungen einbringen. Verschiedene Perspektiven, eine andere Sprache und viel mehr Empathie. Wir versuchen nicht über die Vergangenheit zu sprechen, sondern in die Zukunft zu blicken, für unsere Kinder und unsere Enkelkinder. 2018 haben wir beschlossen, dass wir eigentlich Kontakte mit Palästinenser:innen von der Westbank brauchen, um mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil immer wieder die Frage aufgeworfen wurde: “Mit wem wollt ihr denn Frieden schließen, mit wem wollt ihr denn verhandeln?”. So haben wir uns mit einer Gruppe von palästinensischen Aktivist:innen in Beit Jala getroffen, da haben wir gesagt, wir wollen zusammen ein Abkommen schreiben. Dazu haben wir genau neun Monate gebraucht und wir haben es den “Mother‘s Call” genannt. Heute ist der “Mother‘s Call” Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit. Als dann Covid vorbei war, haben die Palästinenser:innen beschlossen, dass sie eine eigene unabhängige Organisation wollen, das ist Women of the Sun. Seither haben wir sehr viel zusammengearbeitet. Die größte gemeinsame Aktion fand am 4. Oktober 2023 statt. Wir waren 1800 Frauen, Palästinenser:innen aus der Westbank, Israel:innen und etliche Frauen aus dem Ausland. Nach dem Treffen sind wir mit guter Energie nach Hause gefahren. Wir haben damals schon gesagt: “Wir müssen unbedingt die Regierungen dazu bringen, zu verhandeln, denn sonst wird eine Katastrophe passieren“. Drei Tage später ist diese Katastrophe passiert.
N: Weil wir gerade über Women of the Sun und den 7. Oktober gesprochen haben, würde ich da gerne anschließen und fragen, wie der 7. Oktober die Zusammenarbeit beeinflusst hat und wie diese auch rein praktisch noch funktioniert?
AS: Am Nachmittag des 7. Oktobers hat Reem, die Gründerin von Women of the Sun angerufen und gefragt, wie es uns und Vivian geht. Vivian Silver hat im Kibbutz Be‘eri gelebt. Wir hatten für den 4. Oktober verschiedene Gruppen aus dem Ausland bei uns und mit denen sind wir zwei Tage lang durch das Land gereist, unter anderem nach Be‘eri zu Vivian Silver. Reem sagte: “Was immer jetzt auch passieren wird, wir machen weiter”. Das hat uns irrsinnig viel Kraft gegeben. Keiner wusste nach ein, zwei, drei Tagen, wie sich das Ganze entwickelt, welche Ausmaße es annimmt. Vivian Silver hat den letzten Kontakt um 11 Uhr mit ihrem Sohn gehabt. Da Vivian eine kanadische und israelische Staatsbürgerin war, haben sie mich gebeten, mit der kanadischen Botschaft Kontakt aufzunehmen, um ihnen zu sagen, dass wir nicht wissen, was mit ihr passiert ist. Zuerst glaubten wir, dass sie entführt wurde, weil man ihr Telefon in Gaza geortet hat. Als man nach ein paar Tagen in ihr Haus gekommen ist, war alles abgebrannt, man sah nichts von ihr, also dachten wir, dass sie in Gaza war. Das haben wir 37 Tage lang geglaubt. Nach 37 Tagen ist bestätigt worden, dass sie eigentlich am ersten Tag schon verbrannt wurde.
Wir können uns jetzt weder in Israel noch in Palästina treffen, sondern nur im Ausland oder online. Das erste Treffen, das wir gehabt haben, war im Februar 2024, da hat der schwedische Botschafter ein Treffen bei sich in der Residenz organisiert. Er lud sechs von den Palästinenser:innen ein und sechs von uns. Eine von unseren Gründer:innen, ist mit einer von den palästinensischen Frauen zusammengesessen, sie haben die ganze Zeit Hände gehalten, geweint und sich umarmt. Obwohl beide im Krieg Familienmitglieder verloren haben, sind sie trotzdem bereit, Empathie für die andere zu zeigen und weiterzumachen.
Wir haben international Anerkennung bekommen, innerhalb von Israel und Palästina ist es nicht so einfach. Aber wir sind der Meinung, dass es keinen anderen Weg gibt.
Wir müssen unbedingt als Frauen und als Mütter weiterkämpfen, unseren Ruf bekannt machen und zeigen, dass wir auch andere Stimmen in Israel und Palästina haben, nicht nur die des Krieges.
N: Danke, das ist sehr berührend und mein herzliches Beileid für den Tod von Vivian Silver. Ganz viele Organisationen haben sich nach dem 7. Oktober nicht mit den israelischen Frauen solidarisiert oder gar die sexualisierte Gewalt geleugnet. Wie geht Women Wage Peace mit solchen Situationen um?
AS: Wir haben da auch mitgekämpft und verschiedene Petitionen unterschrieben, die verurteilt haben, dass UN Women das nicht anerkennen wollte und es sehr lange gebraucht hat, bis es tatsächlich anerkannt wurde. Als Mitglied der ECOSOC, haben wir Advisory-Status. Einmal im Jahr können wir ein Panel veranstalten, das dann in der ganzen Welt ausgestrahlt wird. Das Thema war, dass man Frauen nicht richtig ernst genommen hat – weder die Soldat:innen noch die sexuellen Übergriffe. Unser Hauptthema heute ist die Befreiung der Geiseln und der Dialog mit Araber:innen. Seit dem 7. Oktober stehen wir täglich mit den Familien der Geiseln und fordern ihre Freilassung.
N: Wie kann euch denn die Gesellschaft bei eurer Arbeit unterstützen und vor welchen Herausforderungen stehen Frauen in Friedensbewegungen?
AS: Die Herausforderungen sind sowohl für Women Wage Peace als auch für Women of the Sun groß. Ich bin mir jedoch sicher, dass sie für Women of the Sun noch viel größer sind. Sie kämpfen gegen die Leute, die gegen die Normalisierung der Beziehung mit Israel sind und werden von diesen als Verräter:innen gesehen. Reem erklärt das immer so: “Zuerst muss ich meinem Vater folgen, danach meinem Bruder – bis ich verheiratet werde, dann muss ich meinem Mann folgen. Ich muss ihnen sozusagen dienen. Ich kann nie entscheiden oder machen, was ich möchte.”
Deswegen müssen sie zuerst aus diesem patriarchalen System ausbrechen und dann können sie erst für Frieden kämpfen. Sie haben eine doppelte Arbeit.
Wir versuchen innerhalb Israels, zwischen arabischen und jüdischen Frauen Verhandlungen zu führen und Aktivitäten zu organisieren, um die Angst abzubauen.
Interview: Jennifer Leviev