A Real Pain – Der etwas andere „Masa le Polin”
Der viel ausgezeichnete Film „A Real Pain“, ist die Darstellung einer „Masa le Polin“, wie man sie als Wiener:in eher nicht kennt; als fancy Reise von Leuten der oberen Mittelschicht, die versuchen, eine Art emotionale Verbindung zur sehr distant empfundenen Shoah aufzubauen. Hierfür eignet sich das Genre der Tragikomödie recht gut, „wir lachten und wir weinten” ist immerhin die Zusammenfassung einer jeden guten Polenreise.
Der Film handelt von zwei Cousins, einerseits der gut an die Gesellschaft justierte, doch auch sehr zurückhaltende Familienvater David, der mit Angststörungen und OCD zu kämpfen hat, doch diese mittlerweile gut durch Meditation und Medikation im Griff hat. Er wird von Jesse Eisenberg gespielt, der zugleich Drehbuchautor, Regisseur und Co-Produzent des Films ist. Andererseits ist da sein völlig gegenteiliger Cousin Benji, von Kieran Culkin dargestellt, der ebenso einen Haufen an diffusen psychologischen Problemen hat, mit denen er jedoch gar nicht gut umgehen kann. Ähnlich schwer tut er sich mit gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen: Er lebt arbeitslos im Keller seiner Mutter und ist alles andere als zurückhaltend, mit Small Talk kann er nichts anfangen und auch sonstige Etiketten ignoriert er vollends. Er ist, wie man auf Englisch sagt, a real pain. Doch werden diese Eigenartigkeiten von seinen Mitmenschen meist als liebenswert empfunden, was seinen schüchternen Cousin recht eifersüchtig macht.
Beide fahren gemeinsam nach Polen, um das Land und die Orte kennenzulernen, aus denen ihre Familie und insbesondere ihre heiß geliebte und kürzlich verstorbene Großmutter stammt. Benjis Beziehung zu ihr war jedoch inniger und intensiver, weshalb ihn der Tod der Großmutter deutlich schwerer trifft. Die Reise ist auch ein Versuch, die erkaltete Beziehung der Cousins wieder aufleben zu lassen. Die gemeinsamen Abende auf den Dächern ihrer Hotels, auf denen sie von Benji geschmuggeltes Gras rauchen, sind etwa ein solcher Versuch. Sie schließen sich einer klassischen jüdisch-amerikanischen Reisegruppe an, die durch den zum Judentum konvertierten und Überlebenden des Ruandischen Genozids, Eloge, ergänzt wird. Dieser ist tatsächlich durch einen realen Freund Eisenbergs mit derselben Biographie inspiriert worden: Als er bei seiner Flucht nach Kanada Shoah-Überlebende kennenlernte, fühlte er sich zum ersten Mal wirklich verstanden. Gemeinsam mit ihrem professionellen Fremdenführer reist die kleine Gruppe durch Polen und passiert einige derselben Stationen, wie Warschau, Lublin und zuletzt auch Majdanek, die ein:e jede:r Wiener Jüdin und Jude kennt, die:der schon einmal auf einem Masa le Polin (hebr.: „Reise nach Polen”) war. Doch die letzte Station der beiden Cousins ist nicht das Ghettokämpferdenkmahl in Warschau, wie es etwa bei der Ha’shomer Ha’tzair Reise üblich ist. Am Ende des Films besuchen sie einen Vorort Lublins, in dem ihre Großmutter vor der Shoah lebte. Vor die Tür ihres ehemaligen Hauses legen die Cousins als Zeichen des Gedenkens zwei dazu auserkorene Steine. Kurz scheint es einem, als würden die Cousins antisemitisch angegangen werden, als ein polnischer Nachbar die Cousins verärgert anspricht. Es stellt sich aber heraus: Der Nachbar bittet sie nur darum, die Steine wieder wegzugeben, damit die alte Dame, die aktuell hinter jener Tür lebt, nicht über sie stolpert.
A Real Pain war schon lange ein Projekt Eisenbergs, das jedoch immer wieder zugunsten anderer nach hinten gereiht wurde. Die Idee dafür entsprang seinem Theaterstück The Revisionist, welches sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzt. Für Eisenberg ist dieser Film ein sehr persönliches Projekt; seine eigene Familie stammt aus einem Dorf in der Gegend von Lublin. Er selbst bekam die polnische Staatsbürgerschaft 2024 verliehen. Inspiriert wurde die aktuelle Verfilmung ebenso durch seine eigene Polenreise mit seiner Ehefrau. Von dieser erwartete sich Eisenberg ein unglaubliches, ja lebensveränderndes emotionales Erlebnis. Er wünschte sich eine Verbindung zur Geschichte seiner Familie, der Geschichte seiner polnisch-jüdischen Ahnen und jener des gesamten jüdischen Volkes. Doch blieb ihm der verheißene echte Schmerz fern, was ihn zu diesem Film inspirierte. Dieser beschäftigt sich vordergründig mit der Suche nach dem Schmerz in Polen. Zugleich stellt er jedoch die Fragen, was echter Schmerz ist, und unter welchen Bedingungen sich dieser Schmerz überhaupt nachempfinden lässt.
Der Film zeigt: Schmerz ist etwas fundamental Subjektives. So ist der Schmerz, den Benji erlebte, der ihn zu einem Suizidversuch veranlasste, genauso real, wie der Schmerz, den seine Großmutter erlebte, auch wenn er durch vollständig unterschiedliche Erfahrungen entstanden ist. David wiederum kann bzw. will das teils nicht verstehen, er weigert sich etwa über sein eigenes Leiden überhaupt zu reden, da er es als unangebracht empfindet, über so ein normales Leid in Polen zu sprechen. So versteht er nicht, wirft ihm fast schon vor, dass jemand wie Benji, der es doch so viel besser hat, als es ihre Großmutter hatte, versucht, sich das eigene Leben zu nehmen, während die Großmutter auch in der Hölle der KZs stoisch weiter existierte.
Diese Frage, wie es die Menschen damals geschafft haben, diesen für uns fast unvorstellbaren Schmerz zu überleben und teils sogar zu überwinden, wie auch die Frage, ob wir uns – angesichts des Berges aus Asche in Majdanek – über unsere eigenen Probleme überhaupt jemals echauffieren dürfen, sind zentrale Elemente des Films. Die Frage, die Benji fast beiläufig stellt, als sie durch die pittoresken polnischen Straßen schlendern, ist jedoch genauso interessant. Wie wäre es denn, wenn das alles nie geschehen wäre? Wie wäre es, eine:r der über drei Millionen polnischen Jüdinnen und Juden zu sein, die wohl heute noch in Polen leben würden, wäre alles anders passiert. Doch die Realität zeigt ein anderes Bild: In den jüdischen Vierteln, die sie besuchen, erzählt der Guide nur anhand von Zahlen und Fakten (was Benji viel zu distant ist), wie das jüdische Leben damals war. Lebende polnische Jüdinnen und Juden sehen wir letztendlich nie und in dem angeblich jüdischen Restaurant, das unsere Protagonisten besuchen, wird jüdische Kultur nur vorgespielt – inklusive Hava Nagilah in scheinbarer Endlosschleife.
Jony Davidowicz