Der dunkle Schatten des Rampenlichts

Der dunkle Schatten des Rampenlichts

Eyal Golan, einer der berühmtesten Sänger Israels, genießt nicht zuletzt wegen seines Hits „Am Yisrael Chai“ großen Ruhm in Israel und der Diaspora. Doch jenseits des Rampenlichts verbirgt sich eine dunkle Realität: Vorwürfe sexuellen Missbrauchs überschatten seit über einem Jahrzehnt ihn und sein Umfeld – ohne allerdings seine Karriere zu bremsen. 

Nun erhebt zum ersten Mal eine der Betroffenen, Taissia, öffentlich ihre Stimme. Vor laufender Kamera erzählt sie selbstbewusst und furchtlos ihre Geschichte. „Ich habe keine Angst mehr, denn das Schlimmste ist schon passiert”, sagt sie. Als siebzehnjähriges Mädchen wird Taissia 2012 von Eyal Golans Vater, Dani Biton, in ein Netz der Zwangsprostitution gelockt. Unter dem Vorwand eines Treffens mit Golan wird sie über Monate hinweg zu dessen Aufführungen eingeladen, anschließend mit Drogen betäubt und von Produzenten, Managern, Geschäftsmännern, Freunden Golans und Golan selbst sexuell missbraucht.

Die Polizei schützt im Fall Golan nicht die Opfer, sondern die Täter. 2013 werden Taissia und ein weiteres betroffenes Mädchen, das zur Wahrung ihrer Anonymität nur als „N” bezeichnet wird, nachts verhaftet. Ihnen wird Drogenkonsum und Prostitution vorgeworfen. Die damals noch 17-jährige Taissia erhält keine rechtliche Beratung, sondern wird stattdessen gedemütigt und wie eine Kriminelle behandelt. Obwohl die Polizei bereits ein Jahr zuvor von den sexuellen Übergriffen in Golans Umfeld weiß, unternimmt sie nichts. Golan bleibt straffrei, es gäbe nicht genug Beweise. Sein wegen Vergewaltigung angeklagter Freund kann scheinbar nicht aufgefunden werden. Nur Golans Vater erhält eine milde Haftstrafe von zwei Jahren. 

2021, acht Jahre nachdem die Ermittlungen als abgeschlossen gelten, beantragen Taissia und N eine Wiederaufnahme. Inzwischen haben beide eigene Familien gegründet, doch die Narben der Vergangenheit bleiben, während Golans Karriere weiter floriert. Was zunächst nach einer Chance für Gerechtigkeit aussieht, entpuppt sich als erneute Enttäuschung für die beiden Frauen und alle Opfer sexueller Gewalt. Im Mai 2023 werden die Ermittlungen gegen Golan zum zweiten Mal eingestellt, angeblich wegen Unstimmigkeiten zwischen Taissias Zeuginnenaussagen von 2013 und 2021. Dass sie bei ihrer ersten Aussage erst 17 Jahre alt und extremen Einschüchterungen seitens der Polizei, staatlicher Behörden und Golans Team ausgesetzt war, bleibt unberücksichtigt. Die Polizei akzeptiert Golans Version der Ereignisse. 

System des Missbrauchs

Golans Missbrauch wurde und wird vermutlich noch immer mit einer Selbstverständlichkeit geführt. Es ist kein alleiniges Handeln Golans, sondern ein gezieltes Gewaltsystem, das sich gegen junge Mädchen aus niedrigen, sozioökonomischen Verhältnissen richtet und ihnen jegliche Selbstbestimmung und Macht nimmt. Es handelt sich um ein systematisches Vorgehen, welches sich von Golans Vater über Manager und Produzenten bis hin zur israelischen Polizei, Justiz und den Medien erstreckt. Diese vielzähligen Akteure haben sich, wie Golans persönliches und professionelles Umfeld, entweder aktiv an dem Missbrauch beteiligt, oder, wie die Behörden und Medien, nachträglich den Missbrauch abgestritten oder legitimiert.

Die Illusion der Trennung von Kunst und Künstler 

Golans Hit Am Yisrael Chai wird weltweit als eine Hymne des Zusammenhalts gefeiert. Er ist auf jeder Hochzeit und Party in Israel und der Diaspora zu hören. Auch in progressiven jüdischen Räumen wird er unkritisch gefeiert. Für Musikkonsument:innen ist es leicht, sich in einer passiven Rolle wohlzufühlen. Man müsse die Kunst vom Künstler trennen können. Man sollte in der Lage sein, das moralische Verhalten des Künstlers getrennt von seiner Kunst zu betrachten. Die Kunst und den Künstler zu trennen setzt jedoch voraus, dass es sich hierbei um zwei Dinge handelt, die unabhängig voneinander sind. Was aber, wenn es gerade die Kunst ist, die den Missbrauch ermöglicht?

In einer Welt, in der Gewalt an Frauen systematisch ist, beruht der Erfolg des Missbrauchs auf der Unangefochtenheit der Kunst. Die Kunst ermöglicht den Zugang zum Missbrauch und schützt die Legitimation und Autorität des Täters. Sie verschafft Golan eine Art Immunität sowohl vor den Behörden, als auch in den Medien. Somit legitimiert die Argumentation, die Kunst vom Künstler zu trennen, weiterhin den Erhalt des Missbrauchs. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man sich als Konsument:in nicht der Verantwortung entziehen kann, die durch den Erfolg der Kunst geschaffenen Machtstrukturen zu durchbrechen. Wenn Golan junge Mädchen nach seinen Shows in Hinterzimmer lockt, dann macht er dies nicht als Privatperson, sondern als mächtiger und erfolgreicher Sänger. Die Ignoranz, sich damit nicht auseinandersetzen, muss durchbrochen werden.

Fassade der Einheit

In seinem Song Am Yisrael Chai singt Golan von der Einheit des „ewigen Volkes“ – „Am echad, am hanetzach”, welches sich in Zeiten des Kriegs vereint halten müsse. Das Argument, eine Einheit sein zu müssen, wird oft von Akteur:innen in Israel in Machtpositionen genutzt, um Kritik abzuwehren und den eigenen Ruf zu schützen. Kritische innergesellschaftliche Debatten, die ihre Machtposition anzweifeln, werden als unpassend abgetan. So auch bei Golan, der von Zusammenhalt singt, während er Taissia und alle anderen betroffenen jungen Frauen öffentlich diffamiert. Golans Forderung in seinem Lied, niemanden im Stich zu lassen, scheint wohl nur für ihn selbst zu gelten.

Die mit dem Krieg verbundene Rhetorik des Zusammenhalts wird zu einem Totschlagargument der Schuldabwehr. Seit Beginn des Krieges lässt sich beobachten, wie in vielen Teilen der israelischen Gesellschaft progressive Werte zugunsten des israelischen Nationalismus in den Hintergrund rücken. Demokratische Prinzipien werden zurückgestellt, um dem Bild eines einheitlichen Israels nicht zu schaden. Doch eine Gesellschaft ist nur standhaft, wenn sie auch in Krisenzeiten kritische Debatten zulässt. Wahre Einheit sollte auf demokratischen Werten beruhen und so sollte sich der israelische Rechtsstaat hinter die Opfer sexueller Gewalt stellen, anstatt deren Täter zu schützen. Ebenso sollten progressive jüdische Kreise, die es sich zugutehalten, sexualisierte Gewalt an Frauen zu thematisieren, nicht schweigen, wenn es sich um einen israelischen Popstar handelt. 

Taissias Kampf um Gerechtigkeit zeigt, dass wahre gesellschaftliche Stärke auch darin besteht, Missstände anzusprechen. Trotz des Drucks zu schweigen, lässt sie sich nicht von den patriarchalen Strukturen mundtot machen und führt ihren Kampf weiter. Sie möchte nun die geschlossenen Ermittlungen von 2023 wieder anfechten und die fehlenden Verurteilungen im Fall Golan in Frage stellen. 

Alisa Offenberg

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