Die Jugend Israels: Zwischen Trauma und Rechtsruck
Die Ereignisse der Zweiten Intifada und die darauffolgenden Jahrzehnte haben eine israelische Jugend hervorgebracht und geprägt, die sich mit erschlagender Mehrheit als rechts versteht. Wer sich eine bessere Zukunft für Israel und Palästina herbeisehnt, wird einen Weg finden müssen, in dieser Generation den Glauben an und die Sehnsucht nach einem nachhaltigen Frieden zu säen, zu begießen und wieder aufblühen zu lassen.
In der vergangenen Bundestagswahl in Deutschland machte sich eine interessante Entwicklung bemerkbar, die noch bis vor wenigen Jahren der Intuition vieler Hobby-Politanalyst:innen vollkommen zuwidergelaufen wäre. Wo man zuvor als junge linke Person in Europa den Fingerzeig auf die konservativen Pensionist:innen als Barrieren im Kampf für Fortschritt richten konnte, hat sich mittlerweile eine neue Realität eingestellt: Gerade die Jugend ergreift im Rechtsruck der sogenannten (un-)vollständigen Demokratien zunehmend eine Vorreiter:innenrolle. Die Gen Z und Millennials, die Kinder des Internets und damit der globalisierten Kommunikation, sind bei Weitem nicht alles progressive „Gendergaga“-Linke, die sich eine Welt ohne Grenzen und illegale Pushbacks erträumen. Jede:r Fünfte von ihnen wählt nämlich weder (Mitte-)links noch rechts, sondern rechtsextrem. Damit krallt sich die AfD (21 Prozent) knapp hinter der Linken (25 Prozent) die zweitmeisten Stimmen der Digital Natives. Zählt man den Stimmenanteil der CDU (13 Prozent) hinzu, wählt ungefähr ein Drittel der deutschen Jugend rechts bis rechtsextrem. In unserem „Groß-Bayern“, das den Namen Österreich trägt, fahren ÖVP-FPÖ übrigens fast die Hälfte aller Gen-Z- und Millennial-Stimmen ein. Richten wir den Blick noch etwas weiter gen Osten, wirken diese Verhältnisse im ersten Moment fast idyllisch.
Historische Bedrohungslagen
Die Kinder des Internets in der only democracy in the middle east identifizieren sich nämlich weit über einer verfassungsrechtlichen Mehrheit (etwa 75 Prozent) als rechts. Dennoch lassen sich die Hintergründe für die spezifische israelische Situation von jenen des Rechtsrucks in anderen westlichen Demokratien unterscheiden. Wer das Thema Sicherheit als ultimativen Bezugspunkt der Rechten versteht, wird kaum überrascht sein, dass in einem Land wie Israel, in dem fast täglich Terroranschläge verübt werden, sich zwei Drittel aller Menschen als rechts identifizieren. Dennoch ist an dieser Stelle ein entscheidender Einwand fällig: Die hegemoniale Identifikation mit „rechts“ stellt ein recht neues Phänomen dar, obwohl Israel seit Tag eins in seiner Existenz bedroht ist. Trotz des wütenden iranischen Regimes und der Hamas, die das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah verübte, ließe sich durchaus behaupten, dass der jüdische Staat in den vergangenen Achtzigerjahren bereits deutlich weiter an den Rand seines Überlebens gedrängt worden war. So beispielsweise beim Yom-Kippur- oder dem Sechstagekrieg. Obwohl letzterer in einem überwältigenden Gebietsgewinn Israels resultierte, hatte damit auch auf israelischer Seite niemand gerechnet. In Antizipation auf massive Verluste wurden in Israel bereits vor Kriegsbeginn tausende Gräber geschaufelt. Der Sieg über das auf dem Papier weit überlegene ägyptische Militär, das schon lange auf die Vernichtung Israels erpicht war, wurde letztlich nur durch einen Präventivschlag ermöglicht. Trotz dieser immensen historischen Bedrohungslagen erhielt die Arbeiterpartei Avoda in den Knesset-Wahlen bis in die späten Neunzigerjahre nie unter dreißig Prozent der Stimmen. Im Rahmen des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses gehörte gerade die israelische Jugend, die sogenannte „Generation Oslo“, zu den eifrigsten Befürworter:innen des Abkommens.
„Generation Bibi“
Das alles änderte sich mit der Zweiten Intifada der Nullerjahre. In den vorherigen Jahrzehnten waren die Feinde Israels, wie beschrieben, die umliegenden Nationen, die es in klassischen Kriegen zwischen Armeen zu besiegen hatte. Die Gefährdung war zeitweise existenziell, in ihrem Wesen jedoch gut auszumachen und zeitlich begrenzt. Nun aber handelt es sich nicht mehr um hunderte Panzer, die sich auf einem Kriegsfeld gegenüberstanden, sondern um Terrororganisationen, die im israelischen Inland und den besetzten Gebieten fast ausschließlich zivile Ziele ins Visier nahmen. Diese Umstände erforderten auch eine völlig neue Strategie für die Bekämpfung dieser Bedrohung: Es ging nicht mehr um geschickte Militärmanöver, sondern um beinahe unmögliche Vorhersagen, wie und wo die Hamas oder PLO als nächstes Busse und Jugenddiscos in die Luft zu sprengen versuchten. Zwei Jahrzehnte später hat maßgeblich die Kohorte der Digital Natives den Wahlerfolg der Ultranationalisten und Faschisten rund um Ben-Gvir und Smotrich ermöglicht, die auf insgesamt 10 Prozent der Stimmen kamen. Obwohl sie damit weit unter dem Zuspruch lagen, den rechtsextreme Parteien in vielen Demokratien Europas sonst erfahren, nahmen sie durch die zugespitzte politische Situation in Israel von Beginn an eine Königsmacher-Rolle in der israelischen Regierung ein. Mit dieser drohten sie seither dutzende Male, die Koalition zu sprengen – gerade auch, um Geisel-Abkommen zu blockieren. Noch signifikanter fällt der Zuspruch für Netanjahu selbst aus: Bereits 2019 bevorzugten ihn 65 Prozent der israelischen 18- bis 24-Jährigen gegenüber seinem moderaten Rivalen Benny Gantz. Im Kontext dieses qualitativen Wandels der Bedrohungslage – von Armeen, die Israel zu vernichten wünschten, hin zu einem enemy within, der terrorisiert – vollzog sich der bis heute andauernde Rechtsruck in Israel. Fast jede:r Israeli:n kennt über eine oder zwei Ecken Opfer von Terroranschlägen. Diese Realität zementierte eine beständige Vigilanz in das kollektive israelische Gedächtnis ein, die gerade auch junge Israelis nachhaltig rechts geprägt hat.
Nachwehen der Zweiten Intifada
Die heutige israelische Jugend ist in einer Fight-or-Flight-Welt groß geworden und gefangen, für die das Trauma der Zweiten Intifada, das darin gesäte Misstrauen und die Enttäuschung über die gescheiterten Friedensverhandlungen die Deutung des Israel-Palästina-Konflikts bestimmen. Mit der darauffolgenden Errichtung der Sperranlagen rund um das Westjordanland nahmen auch Möglichkeiten der Begegnungen und Beziehungen zwischen jungen Israelis und Palästinenser:innen drastisch ab. Fast keiner von ihnen hat sich jemals sinnvoll mit den „Anderen“ auseinandergesetzt, obwohl sie jeweils die Hälfte der Bevölkerung dieses winzigen Landstrichs ausmachen. Die Folgen des Rückzugs aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 bedeuteten zudem für einige junge Israelis, bereits in mehreren der nachfolgenden Kriege zwischen Israel und der Hamas gekämpft haben zu müssen. Sie lehnen gerade auch daher Politiker:innen ab, die bereit sind, noch mehr Land abzutreten, das derzeit unter israelischer Kontrolle steht. Diese Einstellung wird sich seit dem siebten Oktober weitestgehend verstärkt haben. Viele der Ermordeten, Verletzten und Überlebenden des Massakers waren junge jüdische Israelis. Diese Alterskohorte musste dann auch in weiterer Folge in Gaza einmarschieren. Der Rechtsruck der israelischen Jugend fällt im Übrigen auch mit steigendem anti-arabischen Rassismus zusammen. Bei einer Umfrage von 16- bis 18-Jährigen im Jahr 2021 äußerten 66 Prozent der befragten ultraorthodoxen, 42 Prozent der religiösen-nationalistischen und 24 Prozent der säkularen Israelis Gefühle der Angst und des Hasses gegenüber Araber:innen. Dem allem fügen sich auch demografische Entwicklungen der israelischen Gesellschaft hinzu, die diese religiöser und dadurch rechter werden lassen. Auch das politische Chaos zwischen 2019 und 2022, das vier Wahlen auf nationaler Ebene zur Folge hatte, verstärkte das Misstrauen in das politische Establishment – zugunsten der extremen Rechten.
Grenzüberschreitende Radikalisierung durchb(esp)rechen
Zur Realität gehört selbstverständlich auch, dass neben dem Rechtsruck der israelischen Jugend sich auch die palästinensische Jugend in den letzten Jahrzehnten massiv radikalisiert hat. Mehr als in früheren Generationen, wird die historische Verbindung der jeweils anderen Seite mit dem Land und eine Zweistaatenlösung abgelehnt. Beide glauben außerdem verstärkt daran, dass die andere Seite nur Gewalt verstehe. Auf der Suche nach einfachen Lösungen sind diese Jugendlichen sukzessive auch vermehrt von extremistischen Ideologien angezogen. Der einzige Lichtblick: Bis zuletzt (2022) waren nur ein Drittel der 15- bis 21-jährigen Israelis und Palästinenser:innen gegen Dialog-Programme, die Lösungsansätze des friedlichen Teilens des Landes zum Thema hätten. Für eine bessere Zukunft für alle Menschen dieser Region wird es mehr denn je auf derartige Initiativen ankommen. Die anekdotische Evidenz positiver Beziehungen und Begegnungen mit dem unbekannten „Anderen” sind Grundbedingungen der gegenseitigen Rehumanisierung. Dies wäre womöglich ein erster Schritt, um die Sehnsucht nach und den Glauben an einen nachhaltigen Frieden in der jungen Generation wieder aufleben zu lassen.
ALON ISHAY