Grenzenlose Solidarität 

Grenzenlose Solidarität 

Wieso der Schutz des Asylrechts für mich zum „Nie wieder“ dazugehört

Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Thermounterwäsche, eine Wärmeflasche, Schneeschuhe und meinen Lieblingstee, den mir meine besten Freundinnen vor der Abfahrt zugesteckt haben. In Bosnien angekommen, treffe ich bei minus fünf Grad Menschen mit Flip-Flops, zersplitterten Handys und offenen Wunden, die sich durch den Schnee kämpfen. Plötzlich fühlt sich mein vollgestopftes Gepäckstück sehr privilegiert an. Um eine NGO als Zuständige für gesundheitliche Angelegenheiten zu unterstützen, bin ich für einen Monat nach Bosnien gekommen. Beim Auspacken des Koffers beginnt mein Gedankenkarussell: Ich denke an meine Eltern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind auch sie mit solch einer Menge an Besitzgegenständen nach Deutschland immigriert. Das eigene Zuhause verlassen, ohne Eigentum und heute in Deutschland auf gepackten Koffern sitzen, aufgrund des immer stärker werdenden Rechtsrucks. 

Von Flucht und Evakuierungen bis hin zu Neuanfängen; ich merke, wie nah und doch fern „auf Koffern sitzen“ etwas ist, das mit meiner Familiengeschichte in Verbindung steht. Russland, Rumänien, Polen, Ukraine, Lettland – MyHeritage sagt, das wären meine Wurzeln, doch wirklich verbunden fühle ich mich mit diesen Orten nicht. Nationalität hat in den Identitäten meiner Familie nie eine große Rolle gespielt. „Wir sind Juden“, hieß es immer. 

In migrantischen Kreisen fühle ich mich größtenteils zuhause. Die gemeinsame Diasporaerfahrung, der Kampf um soziale Gerechtigkeit und die Verwirrung in Bezug auf Zugehörigkeit haben mich schon immer mit Menschen unterschiedlicher Lebensrealitäten verbunden. In Deutschland geboren und weiß gelesen, erfuhr ich eine andere Positionierung innerhalb der Gesellschaft als andere aus jenen Gemeinschaften. Diese Prägung weckte in mir den Drang, solidarisch mit all denjenigen zu stehen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg oder Armut verlassen mussten und Rassismus ausgesetzt sind. 

Festung Europa

Übersetzt bedeutet diese Solidarität, dass es mich nach Bihać verschlagen hat. Umgeben von atemberaubenden Nationalparks mit Wasserfällen, ist dieser Ort auch ein Armutszeugnis europäischer Grenzpolitik. Es ist absurd, wie schön und hässlich ein Ort zugleich sein kann. Unweit der Außengrenze der Europäischen Union dient dieses kleine Städtchen als Zwischenhalt für Menschen auf der Flucht. Dort habe ich Personen getroffen, die versuchen, Schutz zu finden, die aus Ländern fliehen, in denen das bloße Überleben eine tägliche Herausforderung ist. Als wäre das nicht schon traumatisch genug, erwartet sie in Bosnien und auf anderen Stationen ihrer Route brutalste Polizeigewalt, repressive Flüchtlingslager, Pushbacks und sehr prekäre Lebensbedingungen. Ihr Verbrechen? Das Streben nach einem Leben in Sicherheit und Würde. Auch genannt: Illegale Migration. Dabei ist Migration aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Algerien und Marokko anders kaum möglich. 

In den vielen Ruinen, die wie Narben an den Bosnienkrieg der Neunzigerjahre erinnern, besuchen wir Geflüchtete. Sie sind gezwungen, sich dort ein temporäres Zuhause zu schaffen. Zwischen fünf und zwanzig Mal versuchen die meisten, über die Grenze zu kommen. Jeder gescheiterte Versuch bedeutet Misshandlung, Gewalt und das Ausrauben der letzten persönlichen Gegenstände. Das zutiefst rassistische und diskriminierende System versucht mit diesen Methoden, die Menschen zu brechen. 

Diar ist 22 Jahre alt, er spricht nur Paschtu (eine Sprache die hauptsächlich in Afghanistan und Pakistan gesprochen wird), also kommunizierten wir mit Google-Übersetzer oder warfen uns das ein oder andere Wort auf Englisch zu. Vom vielen Gehen, der Feuchtigkeit durch die vom Schnee durchnässten Schuhe und weil er von der kroatischen Polizei durch den Wald gehetzt wurde – barfuß –  waren seine Füße sehr wund. Damit wir ja nicht bei der medizinischen Versorgung erwischt werden, trafen wir uns oft abends im Dunkeln in verschneiten Parks. Denn die Arbeit von Aktivist:innen vor Ort wird kriminalisiert. Sie seien ein Pullfaktor für illegale Migration. Als würde jemand aus Afghanistan aus heiterem Himmel entscheiden, sein Zuhause zu verlassen, weil er gehört hat, dass ich ihm in Bosnien ein Snackpack bestehend aus drei Scheiben Weißbrot, einem Apfel und einer Dose Fleischpastete vorbereitet habe. In Wahrheit wird die Präsenz von humanitärer Hilfe an den Außengrenzen verboten, damit die hässliche Abschottungspolitik Europas im Verborgenen bleibt.

Antifaschistisches Erbe

In meinem solidarischen Handeln fühle ich mich sehr verbunden mit meinen jüdischen Wurzeln, denn es erinnert mich an unser Schicksal. Hätten mehr Menschen zur Zeit der Shoah illegal gehandelt, wären weniger Jüdinnen und Juden gestorben, auch wenn die aktuelle politische Lage natürlich nicht mit der NS-Zeit gleichzusetzen ist. Wären die Deutschen nicht so gesetzestreu gewesen, hätten wahrscheinlich mehr Menschen Widerstand geleistet. Doch damals wie heute werden Fluchtrouten blockiert. Auch heute bestimmen Staaten, wer fliehen darf und wer nicht. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde als Konsequenz aus der Shoah geschaffen. Sie zu verteidigen, ist unser aller Verantwortung. Es waren Partisan:innen und Widerstandskämpfer:innen, die Fluchthilfe organisierten und untergetauchte Menschen versorgten. Sie stellten sich gegen Faschismus, egal ob in Wäldern, Städten oder Ghettos.

Erinnerungstheater

Am Morgen des 29. Jänner 2025 wurde im Bundestag der Shoah gedacht. Im selben Atemzug stimmte der Bundestag einige Stunden später über einen Antrag der CDU/CSU zur Verschärfung der Migrationspolitik ab. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Antrag mit den Stimmen der AfD angenommen. Auch das zeigt die performative Shoah-Gedenkpolitik in Deutschland, die primär der eigenen Schuldabwehr dient. Deutschland „erinnert“ an die Shoah, während es die Genfer Flüchtlingskonvention bricht – macht Sinn.

Absurderweise bekommt diese konstruierte Kausalität in konservativen Kreisen viel Zuspruch und wird nicht als Widerspruch gewertet. Im Gegenteil. Sie geben vor, Jüdinnen und Juden zu schützen, indem sie Muslim:innen und Araber:innen abseits der eigenen Grenzen halten. Importierter Antisemitismus wird dieses Phänomen gerne genannt. Antisemitismus ist weder importiert noch exportiert – er ist omnipräsent. Eine Ideologie, die sich durch alle Gesellschaften zieht, durch alle Klassen, alle politischen Lager. Gerade Deutschland kann sich der Verantwortung, das anzuerkennen, nicht entziehen.

Antisemitismus darf nicht als Rechtfertigung für rassistische Politik dienen, denn profitieren werden nicht wir, sondern diejenigen, die weder Jüdinnen und Juden noch Migrant:innen in diesem Land haben wollen. Ein kleiner Hot Take am Rande: Wir können beides gleichzeitig tun. Gegen Antisemitismus und für das Recht auf Asyl kämpfen. Wir dürfen uns nicht von politischen Kräften gegeneinander ausspielen und spalten lassen. Ob Abschiebetickets der AfD, Covertitel wie „Wir müssen im großen Stil abschieben“ des ehemaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) oder der Zuspruch der Ampel-Regierung in Bezug auf die GEAS-Reform – sie alle verfolgen ein gemeinsames Ziel: Migration externalisieren. Und während ich in eine Migräne vom Wahlkampf verfallen bin und sich die Schlagzeilen überschlagen, dass jedes bestehende Problem den Ausländern verschuldet sei, denke ich an Diar und seine Freunde. Daran, was das alles für sie auf der Flucht und in ihren Zielländern bedeutet. Dort, wo Rassismus immer salonfähiger wird.

Sophie Orentlikher 

Hinterlasse einen Kommentar