Weil es ums Ganze geht

Weil es ums Ganze geht

Antisemitismus und die Grenzen linker Bündnisse 

„Widersprüche aushalten!“ – Wie oft war dieser Ausruf von genau denjenigen zu vernehmen, deren politischer Aktivismus es ist, jede Ambivalenz auszulöschen. Unter derselben Losung werden nicht erst seit dem siebten Oktober 2023 konsequent universalistische Grundsätze verworfen, sondern ein manichäisches Schwarz-Weiß-Bild der Welt gezeichnet, in dem kein Platz mehr für die komplexe Mehrdeutigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit bleibt. Unter derselben Losung wird auch von einer nicht geringen Menge an linken Gruppen offen auf Wiens Straßen und in den sozialen Medien das Pogrom der islamistischen Hamas in Südisrael verklärt, geleugnet oder gar zelebriert. Die Absurdität dieser Losung sticht spätestens nach einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Islamismus ins Auge: So ist es doch sein zentrales Anliegen, gesellschaftliche Widersprüche und die daraus entstehenden Verwerfungen totalitär in der Ummah (islamische Gemeinschaft) zu befrieden. Wie der Rechtsextremismus das Aufgehen im Volkskörper verspricht, so bietet die islamistische Ideologie den Menschen an, ihre durstige Sehnsucht nach Einfachheit in religiöser Selbstaufgabe zu ertränken. In der islamistischen Denke gibt es keine Ambiguitäten, keine Differenzen mehr. Sie fordert die gewaltsame Durchsetzung einer göttlichen Eindeutigkeit, einer Auslöschung aller abweichenden Gedanken und Individualitäten, die sich nicht ihrer totalitären Weltordnung fügen oder diese mit der bloßen Existenz infrage stellen. 

Seit dem siebten Oktober 2023 werden die Kämpfer der Hamas für ihre Massaker an Zivilist:innen nun aber genau von linken Gruppen lautstark zu Freiheitskämpfern erklärt. Queerfeminist:innen engagieren sich für den Erhalt einer zutiefst patriarchalen Bewegung, Antiimperialist:innen verklären den imperialistischen Anspruch des modernen Islamismus sowie die geopolitischen Machtspiele des Iran und selbst Anarchist:innen stören sich nicht an der Blut-und-Boden-Rhetorik des arabischen Nationalismus. Wer neben solchen Ideologien demonstriert, dem geht es dabei genauso wenig um die palästinensische Zivilbevölkerung wie um soziale Emanzipation. 

Solidarität als Dogma 

An die Stelle einer tieferen Analyse komplexer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse tritt die konformistische Agitation im Namen aller Unterdrückten im „Globalen Süden“, die hier als einheitliche Masse verhandelt werden. Die Menschen dort dienen dabei bloß als Projektionsflächen, denen kein politischer Subjektcharakter mehr zugedacht wird, als ob ihre politischen Ideologien dort keine aktive Dimension, keine Geschichte haben. Sie werden ganz in eurozentrischer Manier zum bloßen Objekt verklärt, zu Reaktionspuppen, die nur reagieren, nie agieren können. Die tödliche Konsequenz des Islamismus, der in kurdischen Gebieten, in Syrien, in Afghanistan, im Sudan, im Iran und an vielen anderen Orten fast täglich Menschen das Leben kostet, wird bewusst verdrängt. Derartige linke Gruppen tragen zu einer kulturellen Essentialisierung politischer Ideologien bei, die reale Machtverhältnisse im „Nahen Osten“ eindimensional verewigen. Der Anspruch auf universelle Emanzipation wird dabei vollständig aufgegeben, die wirklich emanzipatorischen Kämpfe in der Region, die sich gegen Islamismus oder den arabischen und türkischen Nationalismus wenden, werden im Stich gelassen und verraten. Das Feindbild bleibt dabei stets klar: Der einzige jüdische Staat, dem auch in seiner Gründung als Schutzraum jüdischen Lebens, in einer Welt, die einst die Grauen der Shoah hervorbrachte, kein Fußbreit Toleranz entgegengebracht wird. Hier werden keine Widersprüche geduldet, keine Abstufungen gemacht, hier wird die gesamte israelische Gesellschaft in ihrer Essenz zum Bösen erklärt und die einst universalistischen Grundsätze einer linken Bewegung pseudorevolutionärem Gestus und binärer Eindeutigkeit geopfert.

Eine Linke jenseits von Eindeutigkeit 

Die Aufgabe einer gesellschaftskritischen Linken sollten weder die autoritäre Vereinheitlichung noch die gewaltsame Aufhebung von Mehrdeutigkeit sein. Sie sollte sich den Widersprüchen in der Gesellschaft fragend annähern, sie analytisch durchdringen, sie zuspitzen, um sie dann schlussendlich wirklich überwinden zu können. Es bedarf einer linken Kritik, die es schafft, über vereinfachte binäre Dichotomien hinauszublicken. Eine Kritik, die sich die Zeit nimmt, die herrschenden Verhältnisse in ihrer gesamten Mehrdeutigkeit zu fassen und die darin handelnden Subjekte in ihrer Mannigfaltigkeit zu analysieren. „Widersprüche aushalten“ heißt zu verstehen, dass Unterdrückung die Unterdrückten nicht automatisch zur Emanzipation führt. Dass Menschen und Gesellschaften vielschichtiger sind als einfache Schwarz-Weiß-Schablonen. Dass die inneren Strukturen der menschlichen Psyche tiefgründiger sind, als dass sie sich nur in zwei Charaktermasken erschöpfen lassen, die sich wahlweise in eine Reihe mit Unterdrückern oder Unterdrückten stellen. Emanzipatorische Kritik verklärt nicht, sie blendet nicht aus, sie hinterfragt – und zwar nicht selektiv, sondern als Ganzes. Das bedeutet auch, dass die radikale Kritik an Nationalismus, an Krieg, an Tod und Hunger, ja an all den gewaltsamen Ausschlüssen, Zurichtungen und Wunden, die eine kapitalistische Gesellschaft zwangsläufig hervorbringt, weiterhin notwendig bleibt. Eine an Emanzipation interessierte Linke muss sich ganz klar und eindeutig von jeder Ideologie der Ungleichheit und totalitären Eindeutigkeit abgrenzen, ihre Analyse bleibt offen. 

Gerade deshalb kann es keine Vision einer gemeinsamen Zukunft mit jenen Gruppen geben, die sich dieser Einsicht verweigern. Eine Linke, der es ums Ganze geht und die an ihren universalistischen Grundgedanken festhält, demonstriert nicht mit Islamist:innen, Antisemit:innen oder anderen reaktionären Kräften, sie verharmlost und verklärt nicht. Eine an Emanzipation orientierte Linke analysiert jene Ideologien der Ungleichheit als Teil dieses großen Ganzen und versucht Einsicht in die Mechanismen ihrer Beschaffenheit zu erlangen, um ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten und ihnen langfristig die Existenzgrundlage zu entziehen. Den Verfechter:innen der Eindeutigkeit gilt es, die Komplexität der Welt als Ganzes entgegenzuhalten. Und so widersprüchlich und mehrdeutig dieses große Ganze auch erscheinen mag, gilt daran festzuhalten: Wer ein antisemitisches Pogrom verharmlost, wer Ermordung, Vergewaltigung und Entführung als Akt der Befreiung feiert, wer die Freiheit allein in der Zerstörung Israels zu erkennen vermag, führt keinen Kampf für Gerechtigkeit, sondern reproduziert, was er zu überwinden glaubt. Eine Freiheit, die sich rein aus der Vernichtung des Anderen speist, ist nur ein neuer Name für dasselbe alte Grauen. 

Lori Şahan

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