Zwischen Dialog und Dämonisierung

Zwischen Dialog und
Dämonisierung

Der Dokumentarfilm No Other Land im Spannungsfeld des Nahostkonflikts

Der Dokumentarfilm No Other Land – erst kürzlich bei der Oscar-Verleihung in Los Angeles als bester Dokumentarfilm des Jahres ausgezeichnet – entzündet seit Monaten Debatten. Während das Werk von internationalen Stimmen als mutiger Dialogbeitrag in einem erstarrten Konflikt gepriesen wird, bleibt er in den USA unausgestrahlt. In ihrer Heimat wird das palästinensisch-israelische Regie-Duo Basel Adra und Yuval Avraham von beiden politischen Extremen als Verräter beschimpft; in Berlin wird dem Film eine antisemitische Agenda unterstellt, von pro-palästinensischer Seite wird er teilweise als nicht radikal genug kritisiert, weil er mit der israelischen Seite in den Dialog geht.

Eine Kamera als Waffe des gewaltlosen
Widerstands

In No Other Land dokumentiert das Duo unverschleiert die Zerstörung palästinensischer Dörfer im südlichen Westjordanland. Dabei sind Adra und Avraham nicht nur Filmemacher, sondern auch Protagonisten ihres eigenen Werks. Adra, Aktivist aus den Ortschaften Masafer Yatta, überdauert mit seiner Familie die stetigen Vertreibungsversuche, während Avraham als israelischer Journalist zugleich privilegierter Beobachter, sowie Verbündeter ist und damit eine Brücke zum Publikum baut. 

Die Kamera zeigt Bagger, eskortiert von Soldaten und vermummten Siedlern, die scheinbar wahllos Häuser zermalmen; Soldaten, die Brunnen mit Beton versiegeln; Militärbescheide, die Gewalt anordnen– von abgerissenen Schulen bis hin zu vereinzelten tödlichen Schüssen auf Zivilist:innen sowie die Proteste der Dorfbewohner:innen, die verzweifelt um ihr Recht auf Heimat kämpfen. Ohne historischen oder politischen Kontext entsteht das Bild eines Systems der Entmenschlichung, das palästinensisches Leben systematisch erstickt.

Berechtigung für personifizierte Darstellung oder einseitiges Narrativ?

Doch statt über diese dokumentierten Tatsachen zu diskutieren, entzündete sich die Kontroverse an Begriffen: Bei der Oscar-Verleihung 2025 löste die Bezeichnung der Besatzung als ethnische Säuberung Diskussion aus. Bereits auf der Berlinale 2024 wurde der Film nach einer kritischen Erwähnung von Apartheid in der Dankesrede von deutschen Medien und der Stadt Berlin pauschal als antisemitisch verurteilt – ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Inhalten.

Interessanterweise verzichtet der Film bewusst darauf, die gezeigten Ereignisse in einen geopolitischen oder religiösen Kontext einzubetten. Weder historische Hintergründe des Nahostkonflikts, die Rolle des Islamismus oder die Gewalt des Jihad werden thematisiert. Stattdessen rücken die individuellen Erfahrungen der Betroffenen in den Mittelpunkt – ein filmisches Stilmittel, das die Humanisierung einer staatenlosen Bevölkerung ermöglicht, deren Leben durch andauernde Konflikte jeglicher Würde beraubt wird.

Diese Erzählweise löst allerdings Ambivalenz aus: Zwar vermeidet No Other Land damit politische Vereinnahmung und überlässt dem Publikum das Urteil. Doch die emotionale Wucht der Bilder birgt die Gefahr, dass komplexe Zusammenhänge – etwa die Rolle der PLO und Hamas, israelische Sicherheitsinteressen oder die Notwendigkeit des Militärs zur Existenzsicherung des jüdischen Staates – unsichtbar bleiben. Zudem führt die Erzählung zu einer eindimensionalen Darstellung israelischer Akteur:innen: Avraham bleibt die einzige Stimme, die nicht als böse dargestellt wird. Obwohl israelische NGOs bei den Protesten in Masafer Yatta anwesend waren, werden sie im Film nicht abgebildet. Kritische israelische Stimmen, die das aggressive Vorgehen in der Westbank seit Jahrzehnten thematisieren, sucht man also vergebens – der Film verpasst es, die innerisraelische Realität mit ihren Debatten und Initiativen abzubilden. 

Hinzu kommt eine subtile, aber folgenreiche sprachliche Verzerrung: Die Untertitel übersetzen das arabische Wort yahudi (Jude) durchwegs als „Israeli“. Diese Übersetzung spiegelt eine tiefere soziale Realität wider. Für viele Palästinenser:innen sind Israel und Jüdinnen und Juden oft synonym – eine Gleichsetzung, die historische und politische Komplexitäten ausblendet. Gleichzeitig ist dies eine Fehlleistung, die jüdische Identität kollektiv mit israelischer Staatsbürgerschaft gleichsetzt und die Existenz nichtjüdischer Israelis ignoriert.

Antisemitismusbekämpfung als Zensurinstrument?

Die pauschale Diskreditierung von No Other Land als antisemitisch offenbart ein Dilemma: Jüdische Journalist:innen und Künstler:innen, die israelische Politik kritisieren – wie die Besatzungspolitik – verlieren in Europa und dem angelsächsischen Raum zunehmend ihre Plattformen. Unter dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung werden israelische Stimmen wie die des Co-Regisseurs Avraham mundtot gemacht,

obwohl gerade sie durch ihre Arbeit antisemitische Stereotype dekonstruieren – etwa die Vorstellung, alle Jüdinnen und Juden stünden geschlossen hinter Netanjahus Regierung. 

Doch in einer Zeit, in der Antisemitismus vor allem seit dem siebten Oktober weltweit drastisch zunimmt, wirft der Film eine unbequeme Frage auf: Wie lässt sich israelische Besatzungspolitik kritisieren, ohne rechte oder islamistische Antisemit:innen zu stärken? Die Antwort liegt am Ende doch im Dialog. No Other Land ist weder neutral noch unfehlbar, aber genau das macht ihn zu einem notwendigen Werk. Indem er die Perspektive der Bewohner:innen von Masafer Yatta ins Zentrum rückt, ohne ihre Widersprüche zu verbergen, fordert er das Publikum heraus, zuzuhören, auch wenn es wehtut zu diskutieren, auch wenn es unbequem ist.

Adina Frey und Jonathan Meiri 

Hinterlasse einen Kommentar