Birobidzhan – schon davon gehört?
Über den gescheiterten Versuch, ein Jüdisches Autonomiegebiet in der UdSSR zu errichten
Es war einmal vor langer Zeit ein Klassenzimmer. Da habe ich die Weltkarte studiert. Um genau zu sein: Den Osten der Welt. Da ist mir in der hintersten Ecke Russlands, in der Taiga, an der Grenze Chinas und fast schon in Nordkorea, eine interessante Bezeichnung aufgefallen: „Jüdische autonome Oblast“. Das hat mich doch sehr verwundert, war nicht Israel der einzige Fleck auf dieser Erde mit jüdischer Autonomie? Was hat es mit dieser autonomen Region auf sich?
Anfänge jüdischer Autonomie am Ende der Welt
1928 wurde vom Kommunistischen Zentralkomitee beschlossen, eine neue Oblast – also eine Art Bundesland – zu schaffen, die als Heimatstätte der Sowjetischen Jüdinnen und Juden fungieren sollte. „Jiddische autonome Gebiet“, ist der Name laut der zweiten offiziellen Amtssprache Jiddisch, die noch heute neben Russisch die Amtssprache der jüdischen autonomen Oblast ist. Das Design der Flagge ist mit Blick auf die aktuellen russischen Verhältnisse etwas Besonderes, denn es ist ein Regenbogen. Die Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets ist Birobidzhan und hat eine blau-weiß-blaue Flagge, jedoch ohne zentral platziertem Davidstern, sondern mit einer abstrakten Menorah.
Im Grunde war das Autonomiegebiet das Gegenangebot Stalins zum Zionismus, der vor allem durch das Aufkommen des sozialistischen Zionismus bei den sowjetischen Jüdinnen und Juden nicht gerade unbeliebt war. Ebenso war damals noch der Plan aktuell, jeder Ethnie der UdSSR ein Heimatgebiet zu geben, in dem sich diese autonom entfalten sollten – natürlich im Rahmen des Sowjet-Kommunismus. Da die jüdischen Sowjetbürger:innen keine bereits existierende Region hatten, gab man ihnen fünf autonome Bezirke in der südlichen Ukraine. Doch dieses Projekt lief ins Leere, also wurde eine eigene Oblast gegründet. Das Gebiet war etwa so groß wie die Schweiz, doch es lebten bereits dreißigtausend Russ:innen dort, die meisten von ihnen Kosak:innen.
Stalin wollte dieses Gebiet nicht aus reiner Nettigkeit an die jüdische Bevölkerung geben, sondern aus kaltem, realpolitischem Kalkül. Gerade im fernen Osten Russlands, an der chinesischen Grenze, hatte die weiße Armee – also rechte, konservative und vor allem pro-zaristische Truppen – immer noch Anhänger:innen, obwohl der Bürgerkrieg schon längst gewonnen war. Da sich diese Truppen, vor allem was die Kosak:innen anbelangt, durch ihre brutalen Pogrome berüchtigt gemacht hatten, war die Hoffnung Stalins, eine Population in den Osten des Reichs anzusiedeln, die den weißen Truppen die Stirn bieten und sie nicht unterstützen würden.
Eine jüdische Bauernstadt im fernen Osten
Sasha ist die Enkelin einer jüdischen Familie aus Birobidzhan, mittlerweile wohnt sie jedoch in Israel. Sie erzählt: „Meine Familie kommt aus Belarus und ist nach dem zweiten Weltkrieg nach Birobidzhan gezogen. Stalin hat jenes Land dort den Juden gegeben. Man könne sogar einen eigenen Bauernhof haben und es wurden tolle Bedingungen versprochen. Viele Menschen sind dorthin gezogen, ihnen wurde ein jüdisches Utopia in Aussicht gestellt, aber die Realität war eine andere. Zu Beginn existierte dort nichts außer einem Sumpf, auf dem die Stadt erst erbaut werden musste.”
Die neue Hauptstadt der Oblast Birobidzhan ist also inmitten eines riesigen Sumpfgebietes durch jüdische Arbeit entstanden. Das sollte den dreißig Prozent Arbeitslosen der jüdischen UdSSR-Bevölkerung helfen, produktiv zu werden – obschon die Gesetzgebung der Sowjetunion die jüdische Arbeitslosigkeit verursachte. Ebenso sollte sich der “bourgeoise Charakter” der Jüdinnen und Juden ändern und diese zu guten sowjetischen Arbeiter:innen und Bäurer:innen umerziehen.
Antisemitismus hat hier freilich auch mitgespielt, Stalin war ja nicht gerade unbekannt für diesen. Dennoch sind zehntausende sowjetische Jüdinnen und Juden, sowie auch etwas über tausend aus anderen Ländern, freiwillig in den fernen Osten gezogen, um in der versprochenen Freiheit der Autonomie zu leben. Dort erwartete sie jedoch ein hartes Leben in einem Land mit eiskalten Wintern, brütend heißen Sommern und tausenden Moskitos, die einen täglich plagten. Von den ersten 6.700 jüdischen Pionier:innen blieben etwa zweitausend dort. Dennoch etablierten sich jiddische Theater, ein jüdisches Bildungssystem und die jiddisch-russische Zeitung Birobidzhaner Stern, die heute noch existiert. 1934 wurde die Stadt zum offiziellen administrativen Zentrum der jüdischen autonomen Oblast.
Dieses ganze Konstrukt war jedoch auf wackeligen Beinen gebaut: Die Idee, dass Menschen, die ihr Leben lang mit Handel, Handwerk und Gewerbe zu tun hatten, gute Bauern werden würden, hat sich als keine sehr gute erwiesen. Hinzu kamen die stalinistischen Säuberungen ab 1937, die insbesondere jüdische Genoss:innen trafen und somit die meisten jüdischen Institutionen der Sowjetunion, inklusive Birobidzhan. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Stalin einen erneuten Versuch ein und ließ tausende Jüdinnen und Juden aus Weißrussland und der Ukraine dort ansiedeln. So erreichte Birobidzhan 1948 seinen demografischen Höhepunkt mit etwa fünfzigtausend Jüdinnen und Juden – zur damaligen Zeit ein Viertel der Gesamtbevölkerung jener Oblast.
Birobidzhan heute
Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung, Säkularisierung und stetiger Auswanderung – vor allem nach Israel – waren es 2021 nur noch 837 Jüdinnen und Juden, die dort lebten. Das entspricht weniger als einem Prozent der Bevölkerung des gescheiterten Autonomiegebietes. Sasha, die selbst zu jenen gehört, die nach Israel auswanderten, erzählt: „Es gab zwar einige jüdische Familien in meiner Umgebung, aber aufgrund der schlechten Infrastruktur und der geografischen Abgelegenheit der Stadt sind die meisten Jüdinnen und Juden weggezogen. Meine Großeltern wollten jedoch bleiben. Heutzutage wohnen dort sehr viele Chines:innen, aber auch viele Muslim:innen, die Stadt ist ja an der chinesischen Grenze.“
Aber die jüdische Natur der Stadt ist nicht weg, was sich in einem Spruch der lokalen Birobidzhaner verdeutlicht: „Man mag zwar nicht jüdisch sein, muss aber trotzdem jüdisch leben“. So nehmen viele Menschen dort an jüdischen Kulturveranstaltungen teil, schauen das wöchentliche TV Programm „Yiddishkeit“ an und nehmen an jüdischen Feiertagen teil. Zwar gibt es fast keine jiddisch-sprechenden Einwohner:innen mehr dort, aber es gibt mittlerweile eine neue Bewegung an Birobidzhaner:innen, die versuchen, das Jiddische jenseits der Straßenschilder zu revitalisieren. Ebenso gibt es noch die meisten jüdischen Institutionen, mitsamt einer recht neu errichteten Synagoge. Die alte Synagoge wurde vor kurzem neu renoviert. Sasha sagt dazu: „Die jüdische Sonntagsschule ist der zentrale Ort, an dem sich die jüdische Identität der Kinder und Jugendlichen bilden kann. Dort lernt man etwa Hebräisch oder Jiddisch und auch einiges über jüdische Kultur und Geschichte.”
Das Stadtbild selbst ist von Monumenten zur jüdischen und vor allem jiddischen Geschichte gezeichnet, darunter das Denkmal für den großen jiddischen Dichter Scholem Alejchem, der unter anderem Anatevka verfasste. Wer Birobidzhan mit dem Zug erreicht, den erwartet am Vorplatz ebenso eine schön verzierte, monumentale Menorah, die einem neben den jiddischen Schriftzügen klar machen soll, wo man hier ist, nämlich in der jüdischen autonomen Oblast.
Schade, dass diese Oblast heute nur noch dem Namen nach jüdisch ist.
Jony Davidowicz