Bohre nur in deiner Nase und nicht in der von Tante Renate

Bohre nur in deiner Nase und nicht in der von Tante Renate

Warum Genderdysphorie, genitalangleichende Operationen und eine jüdische Identität keine Widersprüche sind

Wer bin ich – und wer darf darüber bestimmen, ob mein Empfinden richtig ist? Wie habe ich mein Leben zu leben – und wer hat darüber zu urteilen, welche Entscheidungen ich treffe? Was macht meine jüdische Identität aus – und wer darf mir diese ab-/zusprechen? Selbstverständlich gibt es nur eine richtige Antwort: Der liebe Gott. Kleines Späßchen. Natürlich nur Ich selbst. Nur die betroffene Person selbst. Wäre schön, wenn diese Antwort tatsächlich für alle so selbstverständlich wäre. Leider ist dem aber (noch) nicht so. 

Ein Hoch auf unser Zeitalter?

Man könnte meinen, dass wir bereits in einem Zeitalter leben, in dem Meinungsverschiedenheit und Selbstverwirklichung in jedem progressiven Diskurs zelebriert werden. Ein Zeitalter, in dem von konservativ klischeehaftem Pink und Blau zur WC-Kennzeichnung abgesehen wird, und man stattdessen selbst entscheiden kann, ob man das Klo mit der Anschrift „mit Pissoir“ oder „ohne Pissoir“ betritt. Ein Zeitalter, in dem der grantig-gesunkene Wiener Blick vom Regenbogen-Zebrastreifen aufgehellt wird und Emanzipationssymbole emporgehoben werden. Gleichzeitig ist es jedoch ein Zeitalter, in dem rechte, menschenrechtsverachtende, rassistische und opportunistische politische Parteien zunehmend an Einfluss und Zuspruch gewinnen. Ein Zeitalter, in dem toxische Männlichkeitsbilder wieder Sympathisant:innen gewinnen, während die perfekte kindererziehende Hausfrau, die ihre female energy als Werkzeug nutzt, als die „wahre Frau“ unserer Gesellschaft propagiert wird. Kurzgefasst: Es läuft vieles noch sehr falsch. Selbstreflexion, kritisches Denken, Bildung, aufklärerische Diskurse und Anlaufstellen sind unsere einzige Rettung vor der Regression der Menschheit. Dazu gehört es eben auch, sich mit den folgenden Themen auseinanderzusetzen: Fremd- und Selbstbestimmung, Identität und Stigmatisierung, Normen und marginalisierte Minderheiten. Was ich nicht bin, ist mir fremd. Was mir fremd ist, kann ich nicht verstehen. Was ich nicht verstehe, verurteile ich. Unaufgeforderte Meinungen – fast zwanghaft egoistisch, narzisstische Projektionen.

Leben und leben lassen

Was ich damit meine? Es scheint, als wären einige grundlegende Manieren, die wir noch aus dem Kindesalter indoktriniert bekommen haben, nicht unbedingt im Erwachsenenalter angekommen. Wühle nicht in anderen Tellern herum, genieß dein Essen. Bohre nur in deiner Nase und nicht in der von Tante Renate. Also auf FSK18: Leb’ und lass leben. An alle, denen allein beim Untertitel dieses Artikels eine angewiderte Lippe gepaart mit einem abwertenden Lächeln entwischt ist – kleiner Fact Check: Es geht nicht um dich. Du bist nicht so wichtig, wie du denkst. Was eine andere Person für sich als fundamental, richtig und identitätsbildend definiert, hat nichts mit dir zu tun. Offenherzige Neugier ist stets willkommen – Pathologisierung und Stigmatisierung allerdings nicht.

Genderdysphorie statt Transsexualismus

Nun, da wir diese Basis geschaffen haben, möchte ich dich herzlich willkommen heißen zu diesem Artikel über ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt und mit dem ich im letzten Abschnitt meines Medizinstudiums  in Berührung gekommen bin: die Genderdysphorie.

Es gibt Menschen, die sich mit dem ihnen bei ihrer Geburt zugewiesenen, anatomischen Geschlecht nicht identifizieren. Diese sogenannte Genderinkongruenz betrifft in Österreich geschätzt vierhundert bis fünfhundert Personen. Weltweit ist der Anteil von Trans*Frauen (= sich, gegensätzlich zu dem bei Geburt zugewiesenen männlichen Geschlecht, mit dem weiblichen Geschlecht identifizierende Personen) größer als jener von Trans*Männern. Transidente Personen weisen eine erheblich höhere Rate an Depression und Suizidalität auf, die nicht zuletzt der gesellschaftlich aufzuarbeitenden Marginalisierung, Stigmatisierung und Unterrepräsentanz verschuldet ist. Von Genderdysphorie spricht man dann, wenn durch die Transidentität ein persönlicher Leidensdruck entsteht. Die ICD-11, ein Register internationaler Klassifikationen von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen der WHO, verabschiedet sich 2018 von den ehemaligen Bezeichnungen des Transsexualismus, Transvestitismus und Störung der Geschlechtsidentität, welche zu den „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ gezählt wurden. Stattdessen emanzipierten sie sich mit der passenderen Terminologie Genderdysphorie und Genderinkongruenz, welche nun einem „Zustand der sexuellen Gesundheit“ untergeordnet werden. Diese Änderung trägt wesentlich zur Depathologisierung jener Zustandsbilder bei. Außerdem wird von der irreführenden Kausalität zwischen Gender und Sexualität Abstand genommen. 

The good old friend no one invited, but always shows up: Bürokratie 

In Österreich erfolgt die Diagnosestellung der Genderdysphorie basierend auf klinisch-psychologischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Gutachten. Sollte ein Therapiewunsch hormoneller oder operativer Art bestehen, sind erneut ebensolche Stellungnahmen vorzuweisen, um vor allem psychische Erkrankungen mit anderem Therapiebedarf auszuschließen. 

Eine Geschlechtsänderung im Zentralen Personenstandsregister kann in Österreich bei bestätigter Diagnose einer Genderdysphorie vorgenommen werden. Ein anderer, nicht dichotomer Geschlechtseintrag („divers“, „inter“ oder „offen“) steht aktuell nur intergeschlechtlichen Personen zu, nicht-binäre sind davon in Österreich jedoch ausgeschlossen. Österreichweit steigt die Zahl an Geschlechtsein-trägsänderungen kontinuierlich. Allerdings wird vermutet, dass aufgrund der vorausgesetzten Gutachten eine erhebliche Blindziffer existiert. 

Therapieoptionen

Hormonelle Therapien werden nach uro-gynäkologischen Vor- und Screeninguntersuchungen nach Kontraindikationen im AKH Wien angeboten. Feminisierende geschlechtsangleichende Operationen (anatomisch männliches Genital wird dem weiblichen Genital der Trans*Frau angepasst), im Sinne einer penilen Inversionsplastik, werden in Wien ausschließlich in der Klinik Favoriten als Kassenleistung angeboten – jedoch beträgt die aktuelle Wartezeit mehr als vier (!) Jahre. Der gesamte Eingriff dauert ca. drei bis fünf Stunden, pro Monat finden etwa drei dieser Operationen statt. 

Maskulinisierende, geschlechtsaffirmative Operationen (Brust-, Gebärmutter-, Eierstockentfernung und Penoidaufbau) sind komplexer und werden derzeit nur in Graz als Kassenleistung durchgeführt. 

Ein jüdischer Pionier 

Magnus Hirschfeld war ein deutsch-jüdischer Arzt, Sexualwissenschaftler und Pionier der Sexualreform. Als bekennender Homosexueller gründete er 1919 in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft. Unter seiner Leitung wurden hier die weltweit ersten geschlechtsaffirmativen Operationen durchgeführt. Er leitete das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK), das früh die Entkriminalisierung von Homosexualität forderte. 1929 sprach sich ein Reichstagsausschuss sogar für die Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität aus – doch mit der NS-Machtübernahme blieb die Reform aus. 1933 wurde sein Institut zerstört und seine Bücher verbrannt, Hirschfeld lebte bereits im Exil. Seine biologisch konzipierten Theorien wurden später von sozialkonstruktivistischen Ansätzen wie von Michel Foucaults abgelöst – doch sein Werk bleibt wegweisend für die Geschichte und den wissenschaftlichen Diskurs von Sexualität und Geschlecht. 

Jüdisch und Trans

Eines sei klargestellt: das hier wird keine theologische Analyse der Torah, dafür fehlt mir der Platz und die Expertise. Dennoch werde ich folgende Kritikpunkte kommentieren und Gedankenimpulse wagen. 

Erstens, Btzelem Elohim – der menschliche Körper sei nach dem Ebenbild Gottes erschaffen und sei unversehrt am Lebensende an Gott zu retournieren. Nun, innerhalb des Körpers lebt die Neshama – die Seele. Was wenn die Transidentität auch durch Gott erschaffen ist? 

Zweitens, Tikkun bedeutet wörtlich „Reparatur“, „Wiederherstellung“ oder „Verbesserung“. Der Begriff stammt aus der Kabbala (jüdische Mystik) und bezeichnet das Ziel, die Welt durch gute Taten, Mitgefühl und spirituelles Wachstum zu „heilen“ – bekannt als Tikkun Olam („Reparatur der Welt“). In queeren jüdischen Kontexten wird Tikkun oft verwendet, um persönliche Prozesse der Heilung, Identitätsfindung und Selbstbestimmung zu beschreiben. Was, wenn eine Transition damit auch als „Akt der Heilung“ im umfassenderen religiösen Sinn verstanden werden kann?

Zuletzt und der bei Weitem wichtigste Punkt: Wir leben in einer Welt, in der bereits zu viel Antisemitismus, Hass und Spaltung existiert. Jüdinnen und Juden machen 0,2 Prozent der Weltbevölkerung aus und sind dadurch bereits eine höchst vulnerable Menschengruppe. Wozu zusätzliche Ausgrenzung von Innen? Wo sollen denn transidente jüdische Personen ihren Safe Space finden, wenn nicht zumindest in unserer Community

Die Erleichterung und das Gefühl, gesehen zu werden, welchen ich bei Gesprächen mit transidenten Patient:innen begegnet bin, ist das, was mich erfüllt. Menschen wie Menschen zu behandeln und niemandem das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, unbedacht meiner inneren Landkarte.

Anlaufstellen

Folgende Anlaufstellen existieren in Österreich und sollen hier nicht unerwähnt bleiben: TransX, Venib, Cha(i)nge und Keshet Österreich.

Claim your space ❤

Michelle Baraev

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