Faktenchecks: Die große Illusion der objektiven Wahrheit

Faktenchecks: Die große Illusion der objektiven Wahrheit

Ein Kommentar über die Grenzen von Faktenchecks und ihre Auswirkungen auf jüdisches Leben online.

Faktenchecks, das klingt doch nach einer brillanten Idee, oder? Ein Werkzeug, das uns helfen soll, die Wahrheit in einer Welt voller Desinformation zu finden. Doch was, wenn die Wahrheit als Konzept selbst umstritten ist? Was, wenn Faktenchecks weniger mit objektiver Realität zu tun haben und mehr mit Machtkämpfen darüber, wer die Deutungshoheit besitzt? Willkommen in der Welt der Faktenchecks – ein Konzept, das in der Theorie vielversprechend klingt, in der Praxis aber oft ins Leere läuft.

Faktenchecks und die Frage: Was sind Fakten?

Das größte Problem mit Faktenchecks ist, dass sie voraussetzen, dass es einen Konsens darüber gibt, was Fakten eigentlich sind. Doch gerade bei kontroversen Themen ist dieser Konsens oft nicht vorhanden. Nehmen wir den Israel-Palästina-Konflikt: Für viele Palästinenser:innen ist die Nakba die „Katastrophe“, die mit der Gründung des Staates Israel 1948 einherging und zur Vertreibung und Flucht Hunderttausender führte. Für viele Jüdinnen und Juden hingegen ist die Nakba-Erzählung eine politisierte Darstellung, die die historischen Zusammenhänge des arabischen Angriffs auf den neugegründeten Staat Israel ausblendet.

Wer hat recht? Das hängt davon ab, wen man fragt. Und genau hier liegt das Problem: Faktenchecks können nur dann funktionieren, wenn es eine gemeinsame Grundlage gibt, auf der man aufbauen kann. Sobald diese Grundlage fehlt, werden Faktenchecks zu einem Schlachtfeld im Kampf um die Deutungshoheit.

Krieg der Fakten: Wenn die Wahrheit als Erstes stirbt

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir uns Kriege und Konflikte ansehen. Es heißt oft, dass die Wahrheit im Krieg als Erstes stirbt – und das ist keine Übertreibung. In modernen Konflikten, wie etwa dem Gazakrieg, wird nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld gekämpft, sondern ebenso in den sozialen Medien, in Nachrichtensendungen und auf den Plattformen von internationalen Organisationen.

Wenn ein Vorfall passiert – sei es ein Angriff auf Zivilist:innen, die Zerstörung eines Krankenhauses oder der Einsatz bestimmter Waffen – steht oft Aussage gegen Aussage. Jede Seite präsentiert ihre „Fakten“ und die Menschen entscheiden sich in der Regel für die Version, die ihrer politischen oder ideologischen Überzeugung entspricht.

Faktenchecks können in solchen Situationen kaum helfen. Sie sind oft zu langsam, um mit der Geschwindigkeit der Desinformation mitzuhalten und selbst wenn sie eine Version der Ereignisse als „wahr“ deklarieren, wird dies von der anderen Seite als unwahr abgetan. Der Krieg der Fakten ist also ein Krieg, den niemand gewinnen kann – außer vielleicht diejenigen, die von der Verwirrung profitieren und Menschen generell apathisch gegenüber dem Politischen machen wollen. Das Ziel von krassen Fake News ist nicht, möglichst viele Menschen zu überzeugen, sondern genug Zweifel zu säen, um Menschen dazu zu bringen, alles infrage zu stellen.  

Die Genozid-Diskussion:
Wenn Vorwürfe zu Fakten werden

Ein weiteres Beispiel für die Problematik von Faktenchecks ist die Diskussion um den Begriff Genozid. Völkermord ist ein juristischer Begriff, der eine rechtliche Bestätigung benötigt, um als Fakt zu gelten. Doch im öffentlichen Diskurs wird der Vorwurf des Genozids oft als Fakt präsentiert, lange bevor eine solche Bestätigung vorliegt.

Organisationen wie Amnesty International oder prominente Persönlichkeiten wie Greta Thunberg haben in der Vergangenheit den Begriff Genozid verwendet, um auf das Leid der Palästinenser:innen im Gazastreifen hinzuweisen. Doch unabhängig davon, ob diese Vorwürfe berechtigt sind oder nicht, zeigt sich hier ein grundlegendes Problem: Der Begriff Genozid hat eine enorme emotionale und politische Sprengkraft. Wenn er einmal in den Raum gestellt wird, wird er oft als Fakt wahrgenommen – selbst wenn die rechtliche Grundlage fehlt.

Faktenchecks können in solchen Fällen wenig ausrichten. Sie können bestenfalls darauf hinweisen, dass der Begriff juristisch nicht bestätigt ist. Doch das ändert nichts daran, dass der Vorwurf bereits seine Wirkung entfaltet hat. Er bleibt in den Köpfen hängen und hinterlässt den Eindruck, dass zumindest ein Funke Wahrheit schon dahinter stecken wird. Zudem wird der Begriff gezielt entwertet, um noch mehr Verwirrung zu stiften. 

Twitter und Wikipedia: Die Demokratie der Masse?

Einige Plattformen haben versucht, das Problem der Faktenchecks zu lösen, indem sie die Community selbst entscheiden lassen, was wahr ist. Twitter hat mit seinen Community Notes ein Modell eingeführt, das an Wikipedia erinnert: Die Nutzer:innen verhandeln „demokratisch“ darüber, was als Fakt gilt.

Das klingt zunächst nach einer guten Idee. Doch in der Praxis zeigt sich schnell, dass Minderheiten in solchen Modellen oft den Kürzeren ziehen. Jüdinnen und Juden sind ein gutes Beispiel dafür. Auf Wikipedia etwa sind viele Artikel – abgesehen von der deutschsprachigen und möglicherweise der hebräischen Version – von antisemitischen Verzerrungen geprägt. Das ist kein Zufall. Wenn die Mehrheit entscheidet, was wahr ist, wird die Perspektive der Minderheit systematisch marginalisiert.

Top-Down-Modelle: Wer entscheidet, was wahr ist?

Die Alternative zu Community-basierten Modellen sind Top-Down-Ansätze, wie sie etwa Facebook verfolgt. Hier entscheidet eine zentrale Instanz, was als Fakt gilt. Doch auch dieses Modell hat seine Schwächen. Wer garantiert, dass die Entscheidenden neutral und kompetent sind? Bildung, Titel oder Expertise schützen bekanntlich nicht davor, voreingenommen oder schlicht falsch zu liegen. Algorithmen, die als Künstliche Intelligenz bezeichnet werden, können ebenfalls keinen Ausweg bieten. KIs werden anhand von realen Datensätzen trainiert und haben vielfach gezeigt, dass sie dadurch extrem anfällig für Antisemitismus und Verschwörungsmythen sind. 

Hinzu kommt, dass Social-Media-Plattformen keine demokratischen Institutionen sind. Sie sind Privatunternehmen, die von Milliardären wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Jack Dorsey kontrolliert werden, wenn sie denn nicht direkt in der Hand von Autokratien sind, wie zum Beispiel TikTok. Sollten diese Akteure – oder ihre Angestellten – wirklich die Macht haben, zu entscheiden, was Fakten sind? Diese Frage ist nicht nur theoretisch, sondern hat bereits reale Konsequenzen für die Meinungsfreiheit und die öffentliche Debatte.

Antisemitismus und die Grenzen des Verbots

Ein besonders heikles Thema ist der Umgang mit Antisemitismus. In Ländern wie Österreich und Deutschland gibt es Gesetze, die gewisse antisemitische Äußerungen verbieten. Doch wie effektiv sind solche Verbote wirklich?

Das Problem beginnt schon damit, dass es keine Einigkeit darüber gibt, was Antisemitismus eigentlich ist. Die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wird von vielen Staaten und Institutionen anerkannt, aber sie ist auch umstritten. Kritiker:innen, die ihrerseits die Jerusalem Declaration entworfen haben, werfen ihr vor, legitime Kritik an Israel zu unterdrücken, während Befürworter:innen sie als notwendiges Werkzeug im Kampf gegen Antisemitismus verteidigen. 

Wenn es schon keine Einigkeit darüber gibt, was Antisemitismus ist, wie soll dann ein gesellschaftlicher Konsens darüber entstehen, wie man ihn bekämpft? Und wie sollen Faktenchecks funktionieren, wenn die Definition des Problems selbst umstritten ist?

Fazit: Die Illusion der Faktenchecks

Faktenchecks sind ein gut gemeinter Versuch, Ordnung in die chaotische Welt der Desinformation zu bringen. Doch sie stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn es keinen Konsens darüber gibt, was Fakten eigentlich sind.

Für Jüdinnen und Juden ist das besonders problematisch. Egal, ob es sich um Community-basierte Modelle wie Twitter oder Top-Down-Ansätze wie Facebook handelt – beide Systeme haben Schwächen, die dazu führen, dass jüdische Perspektiven oft unterrepräsentiert oder verzerrt dargestellt werden.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Illusion der Faktenchecks hinter uns zu lassen und uns auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt: den gesellschaftlichen Konsens. Denn am Ende des Tages ist es nicht die Existenz von Faktenchecks oder Gesetzen, die Diskriminierung bekämpft, sondern die Bereitschaft der Gesellschaft, Diskriminierung zu ächten. Und diese Bereitschaft kann man nicht erzwingen – sie muss wachsen.

Elias Weiss

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