“Ich würde dich bitten, das Wort Jude weniger zu verwenden”
Also besser vermeiden – wer weiß, wen es in Verlegenheit bringt
Vor einigen Jahren hielt ich ein Referat an der Universität über den aufkommenden Antisemitismus in Österreich im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Im Zentrum stand die Frage, wie sich der politische Antisemitismus zunehmend durchgesetzt und wie sich eine deutsch-nationale Identität immer klarer in bewusster Abgrenzung zu jüdischer Zugehörigkeit entwickelt hat. In diesem Vortrag sprach ich im historischen Kontext wiederholt davon, dass die „Juden“ vertrieben und ausgegrenzt wurden.
Nach dem Vortrag kam eine Kommilitonin auf mich zu und sagte: „Max, das war ein sehr gutes Referat, aber ich würde dich bitten, in Zukunft das Wort Juden oder Jude weniger zu verwenden.“ Ich war überrascht und fragte sie nach dem Grund. Sie antwortete, das sei ein beleidigender Ausdruck. Ich erwiderte ihr, dass ich selbst Jude bin – warum sollte ich dieses Wort nicht verwenden dürfen, wenn es doch um die Geschichte und die Erfahrungen meiner eigenen Minderheit geht? Sie zögerte kurz und sagte dann: „Okay, das ist natürlich eine andere Sache. Aber vielleicht solltest du es trotzdem vermeiden, damit es andere Studierende, die nicht jüdisch sind, nicht in Verlegenheit bringt.“
Jude, Jude, Jude
Mir ist die negative Konnotation des Wortes „Jude“ durchaus bewusst. Das ist keine neue Erkenntnis. Es ist nachvollziehbar, dass viele Menschen dieses Wort mit Vorsicht behandeln oder vermeiden. Wenn jedoch selbst in einem akademischen Kontext, der die Analyse und Kritik antisemitischer Ausgrenzung zum Gegenstand hat, die Verwendung des Begriffs als unangebracht empfunden wird, ist dies erstaunlich. Es zeigt, wie tief die historische Last dieses Wortes sitzt.
Um diese allgegenwärtige negative Konnotation zu verstehen – und um herauszufinden, wie sich der Gebrauch dieses Wortes im deutschen Sprachraum vom amerikanischen Kontext unterscheidet und wie er zu Bezeichnungen anderer Minderheiten einzuordnen ist–, muss man den historischen Ursprung dieser sprachlichen Aufladung betrachten. Bereits im Mittelalter wurden jüdische Gemeinden aufgrund gesetzlicher und gesellschaftlicher Ausgrenzung in bestimmte Berufsfelder gedrängt, etwa in den Geldverleih. Dadurch verknüpfte sich das Judentum in der öffentlichen Wahrnehmung früh mit Stereotypen wie Geiz, Wucher oder Gier. Die Bezeichnung „Jude“ wurde somit früh zur Chiffre für Misstrauen, Abwertung und gesellschaftliche Distanz.
Diese historische Entwicklung verschärfte sich über Jahrhunderte und kulminierte im zwanzigsten Jahrhundert: Das Wort „Jude“ wurde im allgemeinen Sprachgebrauch nahezu ausschließlich negativ verwendet und war ideologisch aufgeladen. Es wurde ein Ausdruck zur Beleidigung, zum Stigma, zum Vorboten von Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich zur Vernichtung. In einer Gesellschaft, in der dieses Wort über so lange Zeit hinweg abwertend und entmenschlichend verwendet wurde, überrascht es nicht , dass viele Menschen dieses Wort heute nicht aussprechen wollen; und zwar aus Angst, ungewollt in eine historische Kontinuität der Diskriminierung zu geraten.
Zwischen Beleidigung und Selbstidentifikation
Im amerikanischen Kontext ist die Geschichte anders verlaufen. Nach den großen Migrationswellen jüdischer Einwanderer, insbesondere über Ellis Island, entwickelte sich im Englischen ein spezifischer antisemitischer Schimpfausdruck – das sogenannte K-Wort, also „kike”. Bis heute gilt es als das wohl deutlichste antisemitische Schimpfwort im amerikanischen Wortschatz. Im Gegensatz dazu ist die Bezeichnung „Jew“ oder auch „the Jews“ in vielen Kontexten neutral und wird geradezu selbstverständlich verwendet – auch in den Medien, Bildungsinstitutionen und der jüdischen Selbstbeschreibung. Im Deutschen hingegen fehlt ein klarer, sprachlicher Unterschied zwischen einer neutralen Selbstbezeichnung und einem beleidigenden Ausdruck. Das Wort „Jude“ trägt durch seine historische Last sowohl das Stigma als auch die Bezeichnung unserer Identität. Genau das macht den Umgang mit diesem Begriff besonders schwierig.
Die scheinbar eindeutige sprachliche Trennung im Englischen mag auf den ersten Blick praktikabler wirken, als die doppelte Aufladung im Deutschen. Doch natürlich ist jemand, der das Wort „kike“ unironisch verwendet, ganz klar antisemitisch. Jedoch verwendet nicht jede:r Antisemit:innen zwangsläufig dieses eine Wort, die allermeisten sind vorsichtig genug, dies eben in falschen Situationen nicht zu tun. Es wäre zwar unvorstellbar, dass jemand sagt: „The security of the kike state is non negotiable“ – doch Sätze wie „The Jews control the media and the banks“ sind gebräuchlich und auf Plattformen wie X längst Alltag. Auch das Englische kennt somit eine ambivalente Verwendung eines an sich neutral konnotierten Begriffs, wobei sich die Verwendung des Begriffs durch Tonfall, Kontext und Absicht in eine antisemitische Aussage verwandeln kann. Die Vorstellung, der Begriff „the Jews“ sei per se unproblematisch, lässt somit die doppelte Lesbarkeit außer Acht.
Und die weiteren Mitbürger:innen?
Man könnte sich eine Sprachentwicklung wünschen, wie sie im Fall der Roma und Romnja gelungen ist. Dort hat sich eine differenzierte Bezeichnung durchgesetzt. Der früher gängige Begriff, oft als Z-Wort bezeichnet, wird heute im öffentlichen Raum kaum mehr verwendet und wurde durch die Begriffe Roma beziehungsweise Romnja ersetzt. Für Jüdinnen und Juden gibt es jedoch kein alternatives Wort, das die jahrhundertealte Last des Begriffs Jude ersetzen könnte. Es findet sich keine sprachliche Entsprechung zu Roma, kein neues neutrales Etikett, das als unbeschriebenes Blatt dienen könnte. Die Identität und die Zuschreibung sind sprachlich nicht trennbar. Genau darin liegt die Herausforderung – und zugleich die Notwendigkeit, sich diesem Wort nicht zu entziehen, sondern es selbstbewusst und reflektiert zu verwenden.
Ein Versuch, das Problem zu umgehen, besteht in Formulierungen wie „jüdische Mitmenschen“ oder „jüdische Mitbürger:innen“. Diese Begriffe stoßen jedoch durchaus auf Kritik. Einerseits erzeugen sie erneut eine Trennlinie zwischen Menschen mit und ohne jüdischen Hintergrund. Andererseits tragen sie wenig dazu bei, die tief verankerten ausgrenzenden Denkmuster zu durchbrechen. Zudem ist die Selbstbezeichnung als Jüdin oder Jude in jüdischen Gemeinden ganz selbstverständlich – sie wird weder als beleidigend noch als problematisch empfunden. Würde aus Rücksicht auf andere der Begriff Jude vollständig vermieden werden, wäre dies letztlich das Eingeständnis, dass das Wort mehr als nur negativ behaftet ist. Eine solche Vermeidung änderte jedoch nichts an der universellen Präsenz des Antisemitismus – sie würde nur die oberflächlichen Symptome verschleiern. Schlimmer noch: Sie würde die jüdische Selbstzuschreibung, Sprache und Identität der antisemitischen Perspektive unterordnen. Vielleicht führte auch die Vermeidung dazu, einigen Studierenden das Zuhören angenehmer zu machen. Tatsächlich würde es jedoch nicht dazu führen, Jüdinnen und Juden in der Gegenwart zu schützen oder ihre Identität sichtbar zu machen.
Maximilian Thau