Trauma als Identität – Shoa als Identitätskrise
Meine früheste Erinnerung aus der Schulzeit ist mir selbst manchmal befremdlich. Ich bin sieben Jahre alt, stehe auf der Bühne und rezitiere ein Gedicht von Inge Auerbacher, einer Überlebenden des KZ Theresienstadt.
Schon damals, noch bevor ich eine eigene Identität entwickeln konnte, war die Shoa bereits Teil davon. Diese Erfahrung ist kein Einzelfall, sondern spiegelt das Erleben vieler Generationen von Jüdinnen und Juden wider: Die Shoa gilt als zivilisatorischer Bruch, der zu einer neuen Generationen-Zählung veranlasste. Die Kinder der Überlebenden werden als „Zweite Generation“ bezeichnet, deren Nachkommen als „Dritte Generation“. Ich habe diese Begriffe lange verwendet, ohne mir über die Tragweite bewusst zu sein – wir sprechen hier von einer Zählung, deren gemeinsamer Bezugspunkt die Nähe zur Shoa bildet. Das macht deutlich, wie stark die Shoa das jüdische Selbstverständnis prägt.
They tried to kill us. They failed. Let’s eat!
Die Frage, inwiefern die Shoa die kollektive jüdische Identität prägt, lag für mich aus biografischen Gründen immer nahe. Ich möchte diese Frage jedoch erweitern: Es soll nicht nur um die Shoa gehen, sondern grundsätzlich darum, inwiefern Traumata und schmerzhafte Geschichte, einen Bezugspunkt für jüdische Identität bilden. Das finde ich wichtig – nicht nur, weil die Fixierung auf die Shoa oft dazu führt, dass andere Facetten jüdischer (Leidens-)Geschichte vernachlässigt werden. Sondern auch, weil es um eine Grundsatzfrage geht: Das Judentum ist eine Religion des Erinnerns. Im biblischen Kontext wird vermehrt zu Zikaron aufgerufen – erinnern oder gedenken auf Hebräisch. Jeder Feiertag zentriert sich um das Erinnern, das Durchleben von Verfolgungserfahrungen. Wir alle kennen den Witz: „They tried to kill us. They failed. Let’s eat!” Die Untrennbarkeit von jüdischem Leben mit der Shoa oder mit Antisemitismuserfahrungen wird von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft verstärkt und instrumentalisiert. Die konstante Reduktion jüdischen Lebens auf die Shoa ist fremdbestimmt, aber nicht ausschließlich fremdproduziert – die eigene Leidensgeschichte als fortlaufenden Bezugspunkt zu sehen, ist ein fester Bestandteil jüdischen Selbstverständnisses.
Zwischen Erinnerung und Fixierung
Wenn die Shoa der wesentliche Bezugspunkt jüdischer Identität ist, versetzt das nicht nur den Blick auf sich selbst, sondern auch auf aktuellen Weltereignisse. Gleichzeitig verzerrt die Fixierung auf die Shoa auch die Fremdwahrnehmung von Jüdinnen und Juden. Je stärker der Fokus auf der Opferrolle liegt, desto mehr wächst offenbar das Bedürfnis nach einer kollektiven Gegenerzählung – etwa nach dem Bild der „Juden als Täter”. Es fehlen alternative Assoziationen, sodass ein binäres Bild entsteht: Jüdinnen und Juden erscheinen entweder als Opfer oder als Täter, andere Rollen sind kaum vorgesehen. Dass dieses Problem in antisemitischem Denken wurzelt, versteht sich von selbst. Dennoch beeinflussen sich Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung immer gegenseitig. Jüdische Identität allein auf die Shoa zu reduzieren, verengt die Perspektive. Es verhindert einen notwendigen Austausch, weil auf die Shoa als Totschlagargument oft nichts mehr folgen kann. Das zeigt sich häufig in Debatten um Israel oder Antisemitismus, in denen die Shoa als zentrales Argument dient. Die Fixierung auf die eigene Opferrolle hat zuweilen auch eine narzisstische Komponente: In diesem Narrativ kreisen Jüdinnen und Juden um sich selbst, wie ein ewiger Sevivon.
Dadurch werden andere Perspektiven leicht übersehen und Empathie bleibt oft einseitig, nämlich auf die eigene Gruppe beschränkt. Gleichzeitig ist es oft keine bewusste Entscheidung, die Shoa mit der eigenen jüdischen Identität zu verbinden – wie der Umgang mit dem siebten Oktober zeigt. Dieser Tag steht in seiner Grausamkeit nicht für sich allein, sondern wird im Verhältnis zur Geschichte gesetzt: Er gilt als der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoa. Auch der zunehmende Antisemitismus der letzten Jahre ist beängstigend, nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch im Rückblick auf die Vergangenheit. Verjagte jüdische Studierende vom Campus, zerstörte jüdische Friedhöfe und Meldungen über gewaltsame Übergriffe tragen ein historisches Gewicht. Der siebte Oktober ereignete sich nicht im luftleeren Raum, sondern in der Post-Shoa Gesellschaft. Falls das so klingt: Nein, 2025 ist nicht 1933. Historische Vergleiche sind falsch, sogar gefährlich. Das zu wissen, schützt aber nicht davor, auf emotionaler Ebene Parallelen zu erkennen, vor allem wenn alte Ängste wieder aufflammen.
Erinnern, aber für wen?
Es ist paradox: Auf der einen Seite beschreibe ich eine Shoa-Fixierung, auf der anderen Seite erlebe ich eine Art Shoa-Resignation insbesondere unter jungen Jüdinnen und Juden, die sich ein selbstbestimmtes jüdisches Selbstverständnis aufbauen wollen – losgelöst von der Shoa. In beruflichen und privaten Kontexten beschäftige ich mich intensiv mit der Shoa. Wenn man das als Jüdin in der deutsch-österreichischen Öffentlichkeit macht, geht das mit bestimmten Reaktionen einher: Deutsche, die sich bei einem über ihre Nazi-Großeltern entlasten wollten, Dankbarkeitsbekundungen, seltsame Erwartungshaltungen oder Abwehr, gerne auch in Form von kontextloser und „gut gemeinter Israel-Kritik“. Viel überraschender ist die Reaktion von jüdischer Seite: Ich merke in meinem jüdischen Umfeld einen verurteilenden Unterton, wenn es um meine intensive Beschäftigung mit der Shoa geht. Als wäre ich eine „Verräterin“, weil dadurch beim Gedächtnistheater mitmache. Als würde ich die Bemühungen meiner Generation, sich neu und vielfältiger zu definieren, untergraben. Ich habe den Eindruck, dass Erinnerungsarbeit häufig als etwas betrachtet wird, das der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft dient und nicht Betroffenen selbst. Durch die Verstaatlichung der Erinnerungskultur scheinen viele vergessen zu haben, wer ursprünglich die treibende Kraft dahinter war: Überlebende selbst. In Bergen-Belsen errichteten die Überlebende des Lagers im Sommer 1945 einen provisorischen Gedenkstein. Erst über zwei Jahrzehnte später wurde von staatlicher Seite eine Gedenkstätte eingeweiht. Die Erinnerung an die NS-Opfer wurde anfangs fast ausschließlich jüdischen Initiativen überlassen. Diesen Zugang haben Juden und Jüdinnen zunehmend verloren. Ich empfinde diese Tendenz als alarmierend, sie verstärkt genau jene Enteignung, die eigentlich scharf kritisiert wird. Nein, es ist nicht die Aufgabe von Jüdinnen und Juden, Stolpersteine zu putzen. Wenn sie das aber tun, darf die Selbstermächtigung, die damit einhergeht, nicht abgesprochen werden. Der Wunsch nach jüdischer Selbstbestimmung ist wichtig. Ich glaube aber nicht, dass er lediglich durch eine Abgrenzung und De-thematisierung der Shoa realisiert werden kann. Eine wirksame Möglichkeit bestünde vielmehr darin, wieder einen eigenen Bezug zur Shoa zu entwickeln. Eigenständige Ansätze, die die Erinnerung an die Shoa so gestalten, dass sie sich an ein vielfältiges, selbstbestimmtes jüdisches Leben richtet. Der Zugang zur Shoa muss sich nicht dadurch äußern, der einzige Identitätsmarker jüdischen Lebens zu sein. Die Beschäftigung mit der Shoa kann und sollte auch als eine Form von Aktivismus begriffen werden.
Hat die Shoa eine Zukunft für jüdische Identitäten?
Mich bedrückt und befremdet die Vorstellung, dass meine Kinder in der Grundschule Gedichte von Überlebenden auswendig lernen müssen. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz, nicht die falsche Motivation – auch mir ist es ein Anliegen, dass kommende Generationen die Shoa als Teil ihrer Geschichte begreifen. Das bedeutet aber nicht, Anne Frank als Gute Nacht Geschichte vorzulesen. Es geht um das tiefe Bewusstsein folgender Tatsache: Das Leben meiner Kinder findet ihren Ursprung in dem Überleben meiner Großeltern! Erinnerung ist Teil der jüdischen DNA – die Shoa wird immer einen existenziellen Bezugspunkt darstellen. Wie diese Erinnerung in Praxis umgesetzt wird ohne, dass wir dabei zynisch und selbstzentriert werden, ohne, unsere Traumata über Generationen hinweg zu reproduzieren – das bleibt die Herausforderung jeder Generation.
Joëlle Lewitan