Wos sennen di Yidden?

Wos sennen di Yidden?

Ein talmudisch-sokratischer Dialog zwischen den NOODNIKs Eidel Malowicki und Jony Davidowicz über die Fragen, was Jüdinnen und Juden eigentlich sind, was es bedeutet, jüdisch zu sein und wie sich die jüdische Identität im Laufe der Geschichte verändert hat.

Eidel: Hawara, lebn, ich will dir vier Kashes fregn…di erste Kashe iz…Warum heißen wir überhaupt Juden

Jony: Stellen wir uns vor, wir befinden uns im Rom des Jahres Zweihundert nach Christus: Man fragt uns, woher wir stammen, welchem Volk oder Stamm wir angehören – und die Antwort lautet: „Ich komme aus Judaea, ich bin ein Judäer.“ Wir heißen „Juden“, weil Menschen, die ursprünglich im Gebiet Jehuda – lateinisch Judaea – lebten, dieses sukzessive verlassen haben: teils als Händler im Römischen Reich, teils als Soldaten in römischen Diensten, und dann natürlich auch als versklavte Menschen nach den beiden Jüdischen Kriegen. So wie viele andere antike Völker besaß auch die Bevölkerung Judäas ein eigenes Glaubenssystem, das fest in dem Land selbst verwurzelt war. Als die überwältigende Mehrheit dieser Menschen nach dem zweiten Jüdischen Krieg endgültig aus diesem Land entwurzelt wurde, bestand diese lokale Volksreligion weiter. Manche Historiker:innen sagen sogar, dass das Judentum nach der Zerstörung des Tempels, also das rabbinische Judentum, das durch das Exil entstand, im Grunde nicht mehr dasselbe war wie der israelitische Tempelkult in Jerusalem. Erst nach diesen traumatischen Ereignissen kam es zur finalen Kodifizierung des Judentums, wie wir es heute kennen, beginnend mit den ersten Torah-Kommentaren in der Mischna.

Eidel: Damit host a sach gesagt, was sonst unter’n Tisch fällt. Es geht natürlich nicht nur um die ethnische Komponente, die sehr wichtig ist – das Judentum ist eine anzestral begründete Ethno-Religion. Aber das Judentum ist auch eine lebendige Kultur und Tradition. Das heißt: Jüdische Traditionen wuchsen und entfalteten sich über Generationen hinweg. Und Kultur, sagte schon Durkheim, entsteht nicht im luftleeren Raum. Jede neue Generation steht in einem Dialog mit der Vergangenheit. Es kann nicht jede Generation aufs Neue, aus dem Nichts, eine neue Kultur erfinden, sondern sie braucht immer einen Rückbezug zur Vergangenheit. Und auch wenn Kultur und Traditionen einem Wandel unterliegen, sind sie nie beyn hashmoshes aus der Geschichte herausgefallen.

Jony: Di zwayte Frage iz… Was macht einen Menschen zum “Juden”? Ist es das Blut? Die Seele? Der Bund? Oder gar der Blick des Feindes?

Eidel: Das ist eine alte Frage, vielleicht so alt wie Abraham selbst. Ein Stamm, geboren aus Abraham als erster Ivri, geformt in der Wüste. Dann Jitzchak. Dann Ja’akov. Mit dem Aufkommen rabbinischer Autorität löste sich die ursprüngliche patrilineare Vererbung allmählich auf. An ihre Stelle trat die Norm der Matrilinearität. Vermutlich als sozialer Reflex auf diasporische Verhältnisse: Wo väterliche Abstammung nicht mehr sicher bestimmbar war – sei es durch Gewalt, Assimilation oder mangelnde Dokumentation –, wurde die Mutter zur Garantin der Kontinuität. Und Kontinuität – das ist etwas, das jüdischen Frauen schon lange zugeschrieben wird. Schon vor der rabbinischen Wende: Beim Tanz ums Chet HaEgel blieben sie außen vor, doch beim Aufbau des Mischkans standen sie in der ersten Reihe.

Die Umstellung auf die matrilineare Weitergabe des jüdischen Status war also eine pragmatische Wende. Der Schulchan Aruch, Rambam, und auch Remu verfestigten diese Praxis, leiteten daraus weitere Regeln ab, systematisierten und universalisierten das halachische Judentum.

Jony: Dadurch wurde es auch wieder viel zentralisierter. Wobei die ursprüngliche Regel ja die war, dass man sich an die geistlichen Führer der Zeit halten soll, wenn es eine Frage gibt. Und so eine Frage hat sich nach den katastrophalen Resultaten des zweiten Jüdischen Kriegs gegen Rom gestellt. Sollen die Kinder römischer Soldaten und jüdischer Frauen als jüdisch gelten oder nicht? Asoi iz di dritte Kashe: „Wer zählt dazu – wer darf innerhalb jüdischer Räume sprechen – und wer nicht?“

Eidel: Die Frage ist nach wie vor aktuell bei vielen jüdischen Organisationen, wo immer mehr die Frage aufkommt, wer für wen sprechen kann, und wer überhaupt mitmachen kann – oder gar darf. Hat die Hallachah die höchste Deutungshoheit, und ist sie die wahre Autoritätsinstanz? Was ist, wenn Leute, die sich selbst als jüdisch definieren, für andere Jüdinnen und Juden sprechen, aber die Mitglieder der jüdischen Gemeinde diese Leute hingegen nicht als jüdisch wahrnehmen? Die Fragen, wer als jüdisch gilt, wer in wessen Namen sprechen darf und wer überhaupt innerhalb jüdischer Räume als „eigentlich zugehörig“ betrachtet wird, sind nicht nur Fragen der Identität – sie sind Machtfragen. Klar ist auch: Diese Definitionen haben sich über Jahrhunderte gewandelt – mal mehr, mal weniger charmant. Ich folge einem simplen, gut anwendbaren Ansatz: In jeder “jüdischen” Gemeinde muss es eine Mrs. Friedmann geben, die das Kigel-Rezept ihrer Ururururgroßmutter kennt und weitergeben kann. Wenn’s keine Mrs. Friedmann gibt, dann weißt du: Da fehlt was. Nicht nur Salz im Kigel, sondern Kontinuität.

Jony: Und es würde natürlich auch an Authentizität fehlen. Ein Aspekt, den man bei der ganzen Diskussion leider auch nicht auslassen kann, ist die Frage, was es für andere bedeutet, wenn sie mich als “Juden” wahrnehmen. Wir können talmudische Traktate lesen und mit etlichen Rabbinern diskutieren und sagen, es braucht eine ununterbrochene Linie von jüdischen Müttern, um jüdisch zu sein, aber wenn einen die Gestapo holt und meint, „du bist Jude genug, du kommst jetzt nach Auschwitz“, dann kommt man nach Auschwitz. Das war ein bitteres Erwachen für die liberalen, assimilierten Jüdinnen und Juden, die sich als Österreicher:innen gesehen haben, die sich als Teil der deutschen Kultur gesehen haben, die gar in schlagenden Burschenschaften waren und dachten, dass man sich  als Teil der deutschen Kultur sehen kann und sagen kann: “Ich habe mit dem Judentum nichts zu tun, sondern ich bin ein Deutscher!”. Für die Nazis und ihre Sympathisant:innen waren sie dennoch Jüdinnen und Juden und wurden als solche verfolgt und ermordet. Was ist also eine Antwort darauf, wie es das jüdische Volk geschafft hat, nach dreitausend Jahren immer noch zu existieren? Wenn wir es selbst vergessen haben, gab es immer andere, die uns daran erinnert haben, dass wir jüdisch sind. 

Eidel: In Norbert Elias’ Zivilisationstheorie heißt es sinngemäß: „Der Einzelne wird zunehmend von der Fremdwahrnehmung anderer abhängig und formt sein Selbstbild entsprechend der gesellschaftlichen Erwartungen.“ Es hat vielleicht ein Stückchen Emmes. Im Sinne von: Einerseits verändert es die Selbstwahrnehmung und das Selbstverständnis, bedingt durch äußere Umstände und Herausforderungen, andererseits bestärkt es das Solidaritätsgefühl, wenn wir gemeinsamen Gefahren ausgesetzt sind. 

Aber Ist-Zustand ist nicht Soll-Zustand. Das Judentum ist so viel mehr als nur Reaktion auf Antisemitismus und das von außen Beobachtbare. Es ist eine vielschichtige Kultur, die reich an Humor, Gelehrsamkeit, Musik, Ritual und Hoffnung ist. Und doch muss ich dir zustimmen: Jede Strömung im Judentum trägt irgendeine Form von Erlösungsidee in sich. Die Emanzipation in der Aufklärung etwa wurde lange als eine solche Erlösung gesehen – als Vorstellung, durch Assimilation Gleichberechtigung zu erlangen. Aber das ist schlecht gealtert. Die Vorstellung, man könne sich “rausmodernisieren” aus dem Jüdischsein, hat mindestens seit der Shoah einen massiven Dämpfer bekommen. 

Eidel: Di vierte Kashe iz: „Wie verhält sich der Zionismus zur jüdischen Identität?“

Jony: Der Zionismus war im Grunde die neue Erlösungsidee und hat die absolute Assimilation abgelöst. So ist er mittlerweile ein integraler Bestandteil von vielen, wenn nicht gar den meisten jüdischen Identitäten geworden. Zionismus ist erst nach der Shoah wirklich mainstream geworden. Sogar der Oberrabbiner von Wien, Moritz Güdemann, ein überzeugter Antizionist, hat damals gesagt: “Herzl muss auf den Kopf gefallen sein, was er da redet von einer eigenen Nation, das schadet uns nur”. Er war der Meinung, das Judentum sei mittlerweile keine Nation mehr, kein Volk, sondern eine Weltreligion. Und die Leute, die behaupten würden, dass wir eine Nation seien, so wie die deutsche Nation, die schaden den Juden nur. Andere wie Karl Kraus behaupteten zudem, der Zionismus helfe den Antisemiten, die sagen: “Jude, geh zurück nach Palästina”. Denn wenn wir sagen, „ja wir gehören nach Palästina“, dann hat der Antisemit plötzlich recht. 

Die weit verbreitete Idee, dass es  Herzl war, der als Erster auf die Idee des Zionismus gekommen sei, ist jedoch nicht ganz richtig. Zionismus ist ja schon immer ein integraler Bestandteil der jüdischen Identität gewesen, zumindest seit der Zeit des Babylonischen Exils. Seit jeher sagen wir fast täglich: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, soll mir die rechte Hand verdorren.“ Im Grunde ist das bereits das Gründungsmanifest des Zionismus. Und wenn wir uns die jüdischen Gesetze anschauen, dreht sich vieles um das Leben in Israel, und insbesondere in Jerusalem, sowie um den dortigen Tempeldienst. Noch heute beten wir in Richtung Jerusalem und sagen an jedem Pessach: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“

Eidel: Der religiöse Zionismus war jedoch anders begründet. Die Rückkehr nach Israel war im religiösen Kontext immer Ausdruck einer spirituellen Verbundenheit mit dem Land und vor allem mit der messianischen Hoffnung und Sehnsucht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir einen Nationalstaat gründen – so, wie wir Staaten heute verstehen. Aber ja, der Gedanke des Zionismus, dass die Rückkehr nach Erez Israel unsere endgültige Erlösung sein wird, war schon immer da. Doch wie dieser Gedanke ausgelegt wurde, und wie er sich später vom säkularen und politischen Zionismus abgetrennt hat, kann man nicht ausblenden. 

Jony: Den religiösen Wunsch nach einer physischen Rückkehr gab es schon sehr früh. Bereits der große sephardische Rabbiner Jehuda Ha Levi ist im 12. Jahrhundert nach Jerusalem ausgewandert. Auch danach gab es immer wieder Bestrebungen von jüdischen Gruppen, zurückzukehren, Aliyah zu machen. Anfangs noch vermehrt aus religiösen Gründen, später paralell dazu aufgrund der Bestrebungen nach jüdischer Autonomie und oft natürlich auch, um Antisemitismus zu entfliehen, was seit 1948 durch das Rückkehrrecht möglich ist. 

Eidel: Das Rückkehrrecht hat eben ein besonderes Ziel vor Augen, nämlich einen Schutzort für all jene anzubieten, die von Antisemitismus betroffen sind. Ich glaube, wir müssen da auch als jüdische Organisationen immer ein Ziel vor Augen haben. Sind wir da, um eine halachische Kontinuität zu bewahren, um eine halachische Integration vorzunehmen, oder sind wir da, um gegen Antisemitismus zu kämpfen und einen “Safe Space” für alle von Antisemitismus betroffenen anzubieten. In dem Sinne sollten wir vielleicht eher auf die Kategorie “von Antisemitismus betroffen sein”, schauen, viel mehr als zu versuchen, jetzt eine halachische Deutungshoheit zu geben, wenn eine jüdische Organisation zum Ziel hat, Antisemitismus zu bekämpfen?

Jony: Was die Frage nach halachischer Deutungshoheit anbelangt, muss man natürlich sagen, dass sich Jüdinnen und Juden ohne jüdische Mutter in einer recht unangenehmen Position wiederfinden. Egal wie sehr sie an der jüdischen Kultur, ihren Traditionen und Organisationen teilhaben; die Hallachah sagt ihnen, sie seien nicht jüdisch, auch wenn sie in der Schule antisemitisch gehänselt werden, in der Uni ausgegrenzt werden, weil sie Zionist:innen sind und generell von den meisten Nicht-Jüdinnen und Juden (und auch genügend Jüdinnen und Juden) als jüdisch wahrgenommen werden. Es ist ein Schlag ins Gesicht für diese Leute, die ihr Leben lang Antisemitismus erfahren und sich auch als jüdisch identifizieren, wenn ihnen eine jüdische Gemeinde oder Organisation verbietet, mitzumachen. Zu yiddish für die Gojim und zu goisch für die Yidden. 

Eidel: Jede soziale Gruppe ist per Definition exklusiv, sonst wären Gruppenbildungen gar nicht möglich. Die Frage ist, ob diese Exklusivität legitimierbar ist – politisch, ethisch oder funktional. Dazu kommt, dass soziale Identität nie eindimensional ist. Menschen verfügen über multiple Zugehörigkeiten und soziale Rollen und können sich mehreren Communities zugehörig fühlen: Man kann zugleich Tochter, Aktivistin, Jüdin, Studentin und Sportlerin sein – je nach Kontext rücken verschiedene Identitäten in den Vordergrund. 

Für Organisationen, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus verschrieben haben – wie etwa die JöH – ergibt sich daraus eine klare normative Priorität: Entscheidend sollte nicht sein, wer formal oder halachisch als jüdisch gilt, sondern wer von Antisemitismus betroffen ist. Wer an die Halacha glaubt, wird ihr folgen. Wer nicht, wird ihr nicht folgen. 

Jony: Ein Rabbi hat mir einmal erzählt, die jüdische Identität ist wie ein Tisch mit fünf Beinen. Wenn dieser Tisch nur drei Beine hat, wird er noch stehen, aber bei weniger Beinen schaut es schlecht um den Tisch aus. Die Beine stehen für die verschiedenen Elemente jüdischer Identitäten, die wir auch schon angesprochen haben. Nicht jeder Yid wird auf den gleichen Beinen der jüdischen Identität stehen, und auch wenn wir unsere Identität auf verschiedenen Beinen aufgebaut haben, so teilen wir doch immer mindestens eins miteinander. 

Eidel: Vielleicht liegt die jüdische Identität weniger in einer klaren Grenzziehung, als vielmehr in der Spannung selbst – zwischen Herkunft und Entscheidung, Halacha und Erfahrung, Geschichte und Gegenwart. Und vielleicht ist genau diese Spannung das Band, das uns, trotz allem, immer wieder miteinander verbindet. Das Judentum ist kein statischer Zustand, sondern ein Gespräch – eines, das sich über Jahrtausende zieht. Und wer daran teilnimmt – mit Fragen, mit Widerspruch, mit Anteilnahme – der ist vielleicht schon mittendrin. Nicht weil eine Autorität das sagt, sondern weil das Fragen selbst schon Teil der Tradition ist. Tate Leben, ich will dir vier kashes fregen

Eidel Malowicki & Jony Davidowicz

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