Wien, Herzl & Lueger

Den Zusammenhang von Zionismus und politischem Antisemitismus zu verstehen, ist heute besonders
relevant. Beide Thematiken können kaum getrennt voneinander betrachtet werden. Dies auch aufgrund der verwobenen Ursprünge beider Phänomene. Als Begründer dieser Bewegungen wirkten Karl Lueger und Theodor Herzl – um die Verbindung zwischen diesen beiden widersprüchlichen Figuren zu verstehen, muss man sich dem kulturhistorischen Kontext der Stadt widmen, in der sie sich entwickelt haben.

Wien als Hauptstadt der Donaumonarchie war ein Zentrum der industriellen und kapitalistischen Revolution, ein Schmelztiegel im Herzen eines multikulturellen Reiches. Für viele war es ein Becken der Moderne und ebenso ein Tor zum aufgeklärten Westen. Dennoch war es, kurz nach der Niederschlagung der bürgerlichen Revolution 1848, kulturell konservativ und gab Rollen vor, denen man sich anzupassen hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu bedeutenden Zuwanderungen: Viele Menschen zogen der Bildung und/oder der wirtschaftlichen und politischen Emanzipation wegen in die Stadt. Wien stellte für zahlreiche Bevölkerungsgruppen in den Margen des Kaiserreichs einen Ort voller Möglichkeiten dar. So sehen wir in dieser Zeit einen enormen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung, von ungefähr 4.000 im Jahr 1846 auf bis zu 175.000 rund um 1900. Die folgenden Generationen wollten das Versprechen nach Emanzipation einlösen und so gab es eine regelrechte Explosion an internationalen Protagonist:innen der Moderne wie beispielsweise Sigmund Freud, Alfred Adler und Marie Jahoda. Als Klammer verbindet diese ein vielsprachiger Hintergrund und eine gesellschaftliche Marginalisierung als Juden und Jüdinnen – das Anderssein. Ihre politische und wirtschaftliche Emanzipation stieß auf einen heftigen kulturellen Antisemitismus und ebenso auf Diskriminierung. 

Antisemitismus als bürgerlicher Konsens

Der Antisemitismus hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts in den bürgerlichen Fraktionen als Konsens durchgesetzt. Dieser Umstand ist überwiegend auf die politische Laufbahn eines Mannes zurückzuführen: Karl Lueger. Wenn wir Menschen wie Freud oder Schnitzler als zentrale Figuren der Wiener Moderne sehen, gibt es als zentrale Figur der Antimoderne kein besseres Beispiel als ihn.

Sein politischer Weg ging, nach einem Anfang bei den Liberalen, sehr schnell in Richtung konservativen Populismus. Geschickt schaffte er es, sich an die Menschen zu wenden, die von neuen Geschäftsmethoden überrollt wurden und die unter der industriellen und gesellschaftlichen Modernisierung am meisten litten. Dabei richtete er sich bewusst gegen die Moderne und verband dies mit dem Hassbild des “Juden”. Es gelang ihm, effektiv die sozialen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zu kaschieren. Mit dieser politischen Strategie gab er auch die Entwicklung der Christlich Sozialen Partei vor und bildete einen vereinigten Wahlblock mit den Deutschnationalen. Beide verband maßgeblich ihr heftiger Judenhass.

Die Reaktion der jüdischen Politik auf diesen aufkeimenden Antisemitismus war unterschiedlich, doch  gab es eine historische Figur, die es schaffte, in diesem feindlichen Umfeld eine internationale Bewegung für einen jüdischen Staat zu konzipieren und voranzutreiben: Theodor Herzl. Schon früh wurde er mit dem Antisemitismus konfrontiert. Er verließ die Burschenschaft Albia wegen deren Intoleranz und beobachtete in den 1890er Jahren die Dreyfus-Affäre, einen beispiellosen antisemitischen Justizskandal, der die französische Gesellschaft zutiefst gespalten hat. Prägend waren jedoch vor allem der politische Erfolg Luegers und dessen Rhetorik. 

Diese ausschlaggebenden Momente des europäischen Antisemitismus symbolisieren das Scheitern von Theodor Herzls Emanzipationshoffnungen für die jüdische Bevölkerung in Europa. 

Der souveräne Judenstaat

Als Reaktion darauf schrieb er sein Buch Der Judenstaat. In diesem vertritt er die Ansicht, dass die Not der jüdischen Menschen in der modernen Staatenwelt nur durch die Gründung eines eigenen Staates überwunden werden kann. Sein Kalkül ist simpel. Ohne Souveränität, also ohne staatliches Gewaltmonopol, bleibt man in der Gesellschaft ein Opfer, man bleibt ausgegrenzt und der Gewalt der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Erst durch Souveränität kann man auch zum Feind werden und Frieden schließen. Diese Meinung vertrat er auch beim ersten zionistischen Kongress in Basel 1897. 

Lueger schafft es beinahe zeitgleich, 1897 Bürgermeister von Wien zu werden. Die Essenz dessen, was die politische Existenz Luegers zu dieser Zeit ausmacht und weiterhin leiten wird, ist der obsessive Kampf gegen “die Juden”. Die von ihm geschaffene politische Tradition prägte das Wiener Ambiente mit Aussagen, wonach die Presse, die Kunst, die Universitäten und die Sozialdemokratie “verjudet” seien. Es führt eine klare Traditionslinie von diesem Populismus hin zu dem, was Wien im Jahre 1938 ausmachte. Von dem Becken der Moderne der Jahrhundertwende war in den 1930er Jahren kaum noch etwas vorhanden. Der Austrofaschismus und der beginnende Nationalsozialismus hatten beinahe alle progressiven Errungenschaften zunichte gemacht.

Im Gegensatz zu Lueger war Herzl kein erfolgreicher Kommunalpolitiker, dies war im Wien dieser Zeit auch undenkbar. Herzl war ein Inszenator, er arbeitete als Dramatiker und Feuilletonist. Diese inszenierende Seite war essentiell für seine Kampagne für einen jüdischen Staat, davon zeugt auch sein utopischer Roman
Altneuland. Er versuchte, mit Pragmatismus in Bezug auf politische Verhältnisse eine Bewegung und eine Zukunft für einen jüdischen Staat aufzubauen. Seine politische Motivation lässt sich als Reaktion auf den ausgeprägten Völkerhass Luegers und seines Gefolges zurückführen. Die Absicht des Judenstaates im Gebiet Palästinas war zudem ein Produkt der Unmöglichkeit eines jüdischen Staates in Europa und der Ablehnung eines möglichen Staates in Uganda durch den zionistischen Kongress. 

Keine Distanzierung?

Wir können also erkennen, dass der Wille, Jüdinnen und Juden als “Semiten” abzustempeln und zu vertreiben oder zu verfolgen, den Wunsch nach Auswanderung und Souveränität formte. Diesen Zusammenhang können wir auch heute wieder gut erkennen, etwa im Kontext der jüdischen Emigration von Frankreich nach Israel. 

Besonders in dem Land, in dem diese politische Tradition des Antisemitismus gegründet wurde, ist Bildung über und Distanzierung von Figuren wie Lueger essentiell. Für eine Stadt, in der nach wie vor Denkmäler für einen solchen Menschen stehen, stellt sich die Frage, ob eine Distanzierung jemals stattgefunden hat. 

Maximilian Thau