-mit Kreide gegen sexuelle Belästigung?
Das erste Mal
Als ich das erste Mal sexuell belästigt wurde, war ich 12 Jahre alt. Zumindest glaube ich, dass es das erste Mal war. Vermutlich wusste ich davor einfach nicht, was sexuelle Belästigung ist und wo sie anfängt. Was ich sicher weiß, woran ich mich glasklar erinnern kann, ist aber eben dieser Vorfall:
Meine drei damaligen besten Freundinnen, die genau wie ich 12 oder 13 Jahre alt waren, und ich gingen an einem Samstagnachmittag zusammen ins Michaelibad im Münchner Osten. Nach rutschen, ewig lang im Whirlpool rumsitzen und Pommes mit tonnenweise Ketchup essen, entschieden wir uns dem warmen Außenbecken mit Strömung einen Besuch abzustatten. Ich war vorher schon oft mit meinen Eltern im Michaelibad gewesen und das Außenbecken war zu einem meiner liebsten Parts im ganzen Schwimmbad geworden. Nach fünf Minuten entspanntem von der Strömung treiben lassen mit meinen Freundinnen passierte aber etwas, was mir vorher, als ich mit meinen Eltern oder Geschwistern schwimmen war, nie passiert ist und das für mich das Außenbecken bis zum heutigen Tag vermieste. Eine Gruppe bestehend aus deutlich älteren Männern, die uns bereits zuvor aufgefallen war, weil sie uns angeschaut und gelacht haben, schwamm immer näher an uns ran. Das Schwimmbad war, wie alles andere an einem Münchner Samstag, sehr voll und die Männer direkt hinter uns. Schon spürte ich Berührungen an meiner Taille, meinen Beinen, meinem Po. Ich hatte Angst, aber sagte nichts. Ich redete mir ein, dass das bestimmt ein Versehen gewesen sein muss, aber eigentlich wusste ich ganz genau, dass es keins war. Als es noch einmal passierte, sagte ich zu meinen Freundinnen, dass ich gerne wieder in den Whirlpool gehen würde und wir verließen das Außenbecken. Im Whirlpool angekommen, fühlte ich mich so eklig und peinlich berührt, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich versuchte, dieses Gefühl so gut es ging zu unterdrücken und vor meinen Freundinnen zu verstecken, aber geholfen hat es nicht wirklich und ich wollte nach Hause gehen. Kurz darauf machten wir uns fertig und verließen das Schwimmbad, als bei der Verabschiedung eine meiner Freundinnen fragte: „Hat euch im Außenbecken auch einer dieser Männer angefasst?”, und wir alle drei irgendwie erleichtert nickten. Wir wurden zeitgleich zum ersten Mal sexuell belästigt und trauten uns aus Scham nicht mal mit unseren besten Freundinnen darüber zu reden, obwohl wir es uns doch eigentlich so sehr von der Seele reden wollten.
Dieses kurze Nicken markierte das vermeintliche Ende der Geschichte, denn danach habe ich jahrelang nicht über diesen Vorfall gesprochen. Weder mit meinen Eltern, noch mit Freund:innen, noch mit den drei besten Freundinnen, von denen ich wusste, dass sie dasselbe erlebt haben wie ich.
Wie bereits erwähnt, war das aber eben nur das vermeintliche Ende der Geschichte. Jahre später, um genau zu sein im Mai 2019, spielte sie nämlich eine ganz bedeutende Rolle, als Julia Tokic, eine gute Freundin, und ich das Projekt CatcallsOfMuc auf die Beine stellten. Der Name verrät eigentlich auch schon worum es geht – auf Catcalling, eine Form der verbalen sexuellen Belästigung, aufmerksam machen. Denn Catcalling bedeutet, dass Personen, hauptsächlich weiblich gelesene Personen, in komplett unpassenden Situationen sexualisiert und/oder objektifiziert werden. Und so hat fast jede Frau, auch ohne jemals den Begriff „Catcall“ gehört zu haben, schon mal Sprüche wie: „Hey Süße, geiler Arsch!”, zugerufen bekommen und somit Catcalling erlebt.
Doch wie genau funktioniert das Projekt?
- CatcallsOfMuc ist eine Instagram-Seite und all diejenigen, die Belästigung erfahren haben, können uns per Instagram eine DM schicken und ihre Geschichte erzählen. Dabei gilt: Belästigung ist, wenn man sich belästigt fühlt.
- Es ist wichtig zu erwähnen wo der Vorfall passiert ist, damit wir dann an genau diesem Ort unsere Aktion durchführen können.
- “Unsere Aktion” bedeutet dabei, dass wir den Spruch und/oder die Tat mit Straßenkreide auf den Boden schreiben.
- Beim Schreiben unterhalten wir uns mit Passant:innen und erklären ihnen Sinn und Zweck des Projekts.
- Zuletzt machen wir ein Foto von der Aktion und posten es anonymisiert auf unserer Instagram Seite. Die Geschichte, so wie sie von der belästigten Person an uns geschickt wurde, posten wir im zweiten Slide ebenso anonymisiert mit dazu.
Tausend Geschichten
Mit CatcallsOfMuc sind wir Teil der weltweiten Chalkback-Initiative geworden, die ihren Ursprung in New York City mit der Seite CatcallsOfNYC hat. Gemeinsam versuchen wir also international für das Thema Catcalling, aber auch andere Formen von sexueller Belästigung, zu sensibilisieren und das Ausmaß, sowie die vielen Probleme, die dahinter stecken, sichtbar zu machen. Allein mit CatcallsOfMuc, welche eine Seite ist, die vor allem an den Münchner Raum gerichtet ist, konnten wir in etwa 2,5 Jahren Arbeit über tausend Geschichten sammeln.
Diese Zahl – 1000 – schockiert und frustriert mich jedes Mal, wenn ich etwas länger drüber nachdenke. Über tausend Frauen, die verbal oder physisch sexuell belästigt wurden. Über tausend verschiedenste Geschichten, die sich allein in München abgespielt haben. Und das schlimmste ist, dass ich weiß, dass diese Zahl noch lange nicht die Realität widerspiegelt.
Auf der anderen Seite machen mich diese tausend Geschichten stolz. Sie machen mich stolz, weil wir mit CatcallsOfMuc eine Plattform geschaffen haben, auf der belästigte Personen ein offenes Ohr geschenkt bekommen. Wir haben eine Plattform geschaffen, auf der man seinen Frust niederschreiben und so vielleicht etwas besser mit dem Erlebten abschließen kann. Wir haben eine Plattform geschaffen, die symbolisiert, dass Catcalling kein Tabuthema ist.
Zuletzt geben mir die tausend Geschichten Hoffnung. Und zwar hoffe ich, dass jedes Mädchen, jede Frau oder andere Person, die Belästigung erfährt, nicht länger schweigen muss, wenn sie eigentlich mit ihren besten Freundinnen darüber sprechen möchte.
Sofija Pavlenko