Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich?
Feministische Kämpfe werden an vielen verschiedenen Stellen auf viele verschiedene Weisen geführt. Manche dieser Kämpfe bleiben aber lange Zeit unsichtbar und damit auch unzugänglich, was Unterstützung betrifft. Auch Deborah Feldman erzählt eine Geschichte feministischer Befreiung aus patriarchalen und unterdrückenden Strukturen. In Unorthodox schildert sie ihre persönliche Befreiungsgeschichte aus der ultraorthodox-jüdischen Gemeinde der Satmarer Chassidim in Williamsburg, New York, die für Außenstehende nur schwer zugänglich ist. Mit ihrer Geschichte schafft sie es, feministische Befreiungskämpfe innerhalb einer sonst sehr isolierten Community für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen und damit auch andere Frauen zu ermutigen, den Ausbruch aus der Unterdrückung zu wagen.
Was Unorthodox so besonders macht: Es erzählt nicht nur eine unglaublich persönliche und zunächst scheinbar einzigartige Geschichte. Denn so einzigartig jede Biografie natürlich ist, so eindrucksvoll schafft Deborah Feldman es, durch das Erzählen ihrer persönlichen Geschichte auch auf die Geschichten anderer Frauen in ähnlichen Situationen aufmerksam zu machen, die bis dahin kaum bis gar keine Aufmerksamkeit oder gar Unterstützung in ihrem Ausbruch aus ultraorthodoxen Kreisen erhalten haben. Auch heute erfahren viele betroffene Frauen noch immer vorrangig Ablehnung und haben kaum Anlaufstellen, aber: Es tut sich etwas, wenn auch nur langsam. Und das, weil Geschichten wie jene Deborah Feldmans, erzählt werden und ihnen Gehör verschafft wird.
Wer bestimmt über das eigene Leben?
Unorthodox erzählt eine Geschichte von Fremdbestimmung und dem harten Kampf um die eigene Identität. Deborah Feldman gelingt es, die Einschränkungen und die Unterdrückung, die sie erleben musste, für die Leser:innen greifbar zu machen. Die Mechanismen: Sexismus, Fundamentalismus und patriarchale Machtstrukturen, unter denen Frauen objektifiziert werden und ihnen die Gestaltung ihres eigenen Lebens weitestgehend verwehrt bleibt.
Beginnend bei der eigenen Religiosität und den Konsequenzen davon auf Dinge wie Kleidung, das soziale Umfeld, Bildung, Sprache, viele weitere andere Aspekte bis hin zu sexueller Selbstentfaltung und Orientierung, beruflichen Möglichkeiten und schließlich der Partner:innenwahl liegt alles in den Händen anderer, wie die Leser:innen in Unorthodox schnell merken; auch, um einen Ausbruch aus der Community bestmöglich zu verhindern. Selbstverständliche Dinge, wie beispielsweise mal eben etwas zu recherchieren oder sich mit der restlichen Welt zu verbinden, werden systematisch unmöglich gemacht.
Vom Anfang bis zum Ende schafft Deborah Feldman es in Unorthodox, diese strukturelle Unterdrückung von Frauen in der chassidischen Community sichtbar zu machen. Beginnend bei ihrem frühen Schicksal, von ihren Großeltern und anderen Verwandten großgezogen worden zu sein, weil ihre Mutter die Community verließ und ihr Vater psychische Probleme hatte, bis schließlich zu ihrer Verheiratung und den weiteren noch größeren Herausforderungen, die danach folgen, erzählt sie auf fesselnde Weise, wie zunächst andere Menschen über ihr Leben bestimmen und wie sie den Ausbruch aus dieser Fremdbestimmung meistert.
Ein entscheidender Höhepunkt der Geschichte ist schließlich ihre Verheiratung im Alter von nur 17 Jahren. Ohne ihre Mitbestimmung wird sie als Minderjährige mit einem Mann verheiratet, den sie zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wirklich kennt. Schließlich ist ihre Rolle innerhalb der chassidischen Welt reduziert auf das Gebären von Kindern und den Wiederaufbau einer ultraorthodox-jüdischen Community. Ein Narrativ, das so nicht das ihre ist, dem sie sich nicht beugen möchte, das sie aber unweigerlich weit über ihren Ausbruch und das Buch hinaus begleitet.
Auf den Befreiungskampf folgt der Kampf um Sichtbarkeit und Raum
Unorthodox ist eine Geschichte feministischer Befreiung aus patriarchalen Strukturen. Deborah Feldman ist große Risiken eingegangen, um sich ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben jenseits dieser Strukturen aufzubauen und ermöglicht mit ihrer Offenheit, ihre Geschichte der Welt zu offenbaren und sich damit auch verwundbar zu machen, anderen Frauen mit ähnlichen Schicksalen, von der Mehrheitsgesellschaft gehört und gesehen zu werden und damit vielleicht einen Anker zu finden, wo zuvor keiner war.
Sie hat es außerdem geschafft, auch innerhalb der jüdischen Gemeinden einen Stein ins Rollen zu bringen. Ihre Geschichte hat ein längst überfälliges Diskursfeld in einer neuen Größendimension eröffnet und es damit ermöglicht, einen Weg für viele andere Betroffene zu ebnen, sich aus jenen Strukturen zu befreien, die es ihnen verunmöglichen wollen, ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Und damit setzt sie bei fundamentalen feministischen Zielen an: Gleichberechtigung und Selbstbestimmung über die eigene Existenz. Denn schließlich sollte allen die Möglichkeit zukommen, gleichberechtigt zu leben und frei zu entscheiden, wie sie ihre individuellen Leben gestalten wollen.
Unorthodox eröffnet den Leser:innen die Möglichkeit, einen Einblick in eine kritische Perspektive auf chassidische Gemeinden zu bekommen. Deborah Feldman macht von Anfang an klar, wie sie sich fühlt. Sie kommuniziert sehr deutlich, wie ihre Gemeinschaft mit ihr umgegangen ist und was sie dazu bewegt hat, sich jenseits davon ein neues, eigenes Leben aufzubauen. Und trotz dieser überwiegend unterdrückenden und sexistischen Mechanismen, die sie schließlich dazu bewegt haben, die Community zu verlassen und die Geschichte ihres Ausbruchs zu erzählen, gelingt es ihr in Unorthodox auch, die schönen und warmherzigen Seiten jener Menschen innerhalb der Community nach außen zu transportieren, die sich, ganz anders als sie, im Chassidismus selbst wiederfinden. Der Kampf um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung – so unterschiedlich unsere Lebensentwürfe dann am Ende des Tages aussehen – ist also noch längst nicht ausgefochten. Es braucht Safer Spaces, in denen Betroffene sich öffnen können und auf offene Ohren stoßen, in denen wir uns zusammenschließen und einander in unserem Kampf gegen patriarchale Unterdrückung unterstützen. Auch Deborah Feldmans Unorthodox trägt zur Schärfung des öffentlichen Bewusstseins und damit zur Gestaltung neuer Safer Spaces für Betroffene bei.
Julia Stallinger