Ambivalenz. Ich hasse dieses Wort. Nicht immer. Nur in Bezug auf Lueger. Nicht nur auf Lueger, generell in Bezug auf Antisemitismus.
Dieses Land hat so einen unglaublich starken Drang nach Ambivalenz und ich habe lange nicht verstanden warum. Es ist Juni und eigentlich kaum zu glauben, wieviel in den letzten neun Monaten um Karl Lueger und das ehrende Denkmal dieses Antisemiten passiert ist. Als wir im Oktober unsere Kunstinstallation geplant haben, konnten wir weder ahnen, dass sie so erfolgreich werden würde, noch, dass wir nach einem Dreivierteljahr Teil des von der Kulturstadträtin initiierten „Runden Tisches“ und damit Teil des Entscheidungsprozesses über die Zukunft der Statue werden sollten.
Seit September hat sich viel verändert. Vor allem gibt es jetzt den klaren Konsens, dass sich etwas ändern muss. Eine Sache hat sich jedoch nicht verändert: der Drang nach Ambivalenz.
Vielleicht liegt es daran, dass mein Großvater beim Todesmarsch mitgegangen ist, oder dass die meisten Großeltern in meinem jüdischen Umfeld eine Nummer auf dem Arm tätowiert haben, aber ich kann die Ambivalenz nicht nachempfinden und werde das wahrscheinlich auch nie tun. Ich kann nur versuchen, es aus einer nicht-jüdischen Perspektive zu verstehen. Jene Perspektive, die teils aus Schuldgefühlen, teils aus Verdrängung besteht, die von Menschen geteilt wird, die das Wort “Jude” nicht laut aussprechen können und jedes Mal zusammenzucken, wenn wir es tun.
Aus dieser Perspektive ist es sehr leicht, Lueger und seine Statue als ambivalent zu bewerten. Es ist der leichteste Weg, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, oder besser gesagt: genau dies nicht zu tun. Es ist ein Coping-Mechanismus, um die Kindheit seiner Großeltern in der Hitlerjugend oder im Bund Deutscher Mädchen zu erklären oder zumindest zu verstehen, oder in älteren Generationen, um die Mitgliedschaft der Eltern bei der NSDAP, der Wehrmacht oder der SS zu verstehen – oder die eigene. Verstehen für sich, aber auch für die heutige moderne und aufgeklärte Gesellschaft, die von einem verlangt, eine klare Haltung zu seiner eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit einzunehmen. Verlangt sie das wirklich? Ich finde nicht. Nicht genug jedenfalls. Dass wir bis in die 80er von Österreich als “Erstem Opfer” gesprochen haben und der 8. Mai in der breiten Masse erst seit circa zehn Jahren als Feiertag etabliert ist, ist jene Ambivalenz, von der ich spreche. Das nicht-Aufarbeiten dieser Vergangenheit führt zum Ambivalenz-Empfinden. Genau diese Ambivalenz herrscht auch in der Lueger-Debatte. Die Debatte um jenen Mann, der den politischen Antisemitismus in Österreich erfunden hat.
Auch wenn Neofaschist:innen sich mit genau diesem Mann identifizieren. Auch wenn wir als offen jüdische Organisation Angst haben müssen, bei seinem Denkmal öffentlich aufzutreten, weil die rechtsextremen Identitären eine „Wache“ ankündigen.
„Man muss Luegers Errungenschaften von seinem Antisemitismus trennen“ ist die wahrscheinlich dümmste Aussage in diesem Diskurs, weil die Kausalität zwischen seinem politischen Antisemitismus und seinen späteren Errungenschaften, von denen immer so gern gesprochen wird, nicht klarer sein könnte.
Lueger konnte seine „guten Taten“ nur aufgrund seines Antisemitismus vollbringen und diesen Fakt nicht zu akzeptieren, bedeutet, aktiv wegzuschauen. Aktiv wegschauen bedeutet auch, Lueger ambivalent zu finden. Und ich hoffe, dass der österreichischen Gesellschaft endlich deutlich wird, was für uns so unmissverständlich klar ist: Bei Antisemitismus darf keine Ambivalenz herrschen.
Sashi Turkof