Antifa, Migrantifa, JöH: 
Aktivismus im Spannungsfeld der 
 „Identitätspolitik“

Nachdem das Gedenken an den Terroranschlag von Hanau letzten Jahres am 19. Februar zu einem
öffentlich ausgetragenen Streit zwischen der autonomen antifa wien (afa) und der Migrantifa Wien geführt hat, ist es wohl an der Zeit, sich die Frage zu stellen: Wieso geraten zwei antifaschistische Organisationen derart aneinander? Sollten die sich nicht verstehen? 

Für Szeneunkundige ist es schwierig, die einzelnen Akteur:innen überhaupt auseinanderzuhalten. Tatsächlich gibt es grundlegende ideologische Unterschiede zwischen den beiden Organisationen. Diese dürften auch für den jüngsten Eklat gesorgt haben: Am 19. Februar 2020 nützte eine jüdische Aktivistin, von der Migrantifa eingeladen, die Gedenkveranstaltung an die Opfer des Terroranschlags in Hanau dazu, ihre Meinung zum israelisch-arabischen Konflikt und dem damit verbundenen „Jüdischen Faschismus” kundzutun. Sie behauptete, es bestehe ein Zusammenhang zwischen rechtsextremem deutschen Terrorismus, den Praktiken der israelischen Regierung und den vermeintlichen jüdischen „Privilegien”. Vertreter:innen der JöH verließen daraufhin aus Protest geschlossen die Kundgebung.

Dieses Ereignis kritisierte die afa in einem öffentlichen Statement am 20. Februar, in welchem sie darauf hinweist, dass solche Anschläge sehr wohl auf  Jüdinnen und Juden abzielen und dass es sich um den völlig falschen Ort und Zeitpunkt für ein derartiges Statement handelt. Die Aktivistin entschuldigte sich anschließend am 25. Februar über Twitter für die deplatzierte Verwendung des Begriffs „Jüdischer Faschismus”, auch wenn sie weiterhin der Überzeugung war, dass es sich um einen geeigneten Anlass handelte, um auf „den Rassismus in den eigenen Reihen” aufmerksam zu machen. Diesen gibt es natürlich, wie in jeder Gruppe von Menschen, doch war er nie Gegenstand der Kritik durch die afa oder die JöH. Man hätte es nun dabei belassen können, dass man sich über die Art und Weise politischer Arbeit uneins ist. 

Daraufhin veröffentlichte die Migrantifa Wien  am 25. Februar aber  ein Statement, indem sie der afa vorwirft, zu „weiß” zu sein und sich darüber beschwert, dass migrantische und BIPOC-Stimmen in der hiesigen linken Szene „ausgeschlossen und gesilenced” werden. Dass der Protest über die Rede eigentlich von der JöH, also der gewählten politischen Interessensvertretung der jungen österreichischen Jüdinnen und Juden ausging, wird im Statement der Migrantifa wiederum verschwiegen. Daher sah sich die JöH gezwungen, dies in einem Statement am Folgetag klarzustellen. Die Frage, die man sich hier wohl stellt, lautet: Wieso ist die Identität in der Argumentation der verschiedenen Gruppen eigentlich so wichtig und wie gewinnt man damit Diskussionen?

Ideologiekritik
oder Betroffenheitsperspektive?

Der Soziologe Floris Biskamp arbeitet sich am Beispiel des Mbembe-Streits in Deutschland an diesem Problem aus einer theoretischen Perspektive ab. Dafür trennt er den linken Aktivismus in zwei idealtypische Kategorien: die rassismuskritische und die antisemitismuskritische. In der Praxis sind diese Kategorien natürlich nicht so klar voneinander zu trennen. 

Kurz zusammengefasst argumentiert Biskamp, dass rassismuskritischer Aktivismus die Betroffenenperspektive im Blick habe und sich den mit der Aufklärung verbundenen Kolonialismus als Referenzpunkt in der Geschichte ausgesucht habe. Dessen bis heute vorhandene Auswirkungen gelte es aufzuzeigen und zu bekämpfen. Dabei sollen die Erfahrungen und Praktiken der von Rassismus betroffenen Personen sichtbar gemacht werden. Der rassismuskritische Aktivismus stellt sich damit in die Tradition der akademischen Schule der Intersektionalität, die meist gemeint ist, wenn der Vorwurf der Identitätspolitik aufkommt. Intersektionalität möchte aufzeigen, dass verschiedene Formen der Diskriminierung ineinandergreifen und sich dabei gegenseitig verstärken und beeinflussen können. Daher spielt Identität im Kontext von Kategorien wie Indigenität oder Race einer/s Sprecher:in eine wichtige Rolle. Diese breiten sich aktuell auch im eurasiatischen Raum immer weiter aus. So wichtig diese Ansätze sind, gilt es festzuhalten, dass die Obsession mit der Betroffenenperspektive zum Einfallstor für reaktionäre Kräfte und abstruse Argumente werden kann, solange sie nur von der richtigen Person stammen.

Im antisemitismuskritischen Aktivismus hingegen stehen Ideologien wie der Antisemitismus, und damit zusammenhängend der Rassismus, im Zentrum der Analyse und des Aktivismus. Ziel ist hierbei die Auseinandersetzung mit antisemitischen und rassistischen Ideologien und ihrer Rolle und Funktion für die Gesellschaft, wie es Biskamp ausdrückt. Dementsprechend interessiert es ideologiekritische Aktivist:innen recht wenig, wer was wieso gesagt hat, einzig und allein das Argument solle ausschlaggebend sein. Ebensowenig kann für diesen Denkansatz die Identität des Gegenübers in einer Diskussion eine Rolle spielen. Auch Gefühle sind nicht Teil der Argumentation. Daraus sollte sich selbstverständlich ergeben, dass die Auslassung der jüdischen Identität einzelner Migrantifa-Aktivist:innen, laut Migrantifa, natürlich „kein Zufall” war. Diese Auslassung „diente” aber eben nicht der „Konstruktion einer bestimmten Erzählung”, sondern ergibt sich ganz einfach aus der Argumentationsweise der afa. Am Ende des Tages betreiben jüdische Hochschulgruppen wie die JöH ja nichts anderes als Identitätspolitik. Hier ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass auch die JöH kein homogener Zusammenschluss junger Jüdinnen und Juden ist, die alle einer Meinung sind. Die JöH ist eine pluralistische Organisation, mit der Aufgabe, eine Vielzahl jüdischer Positionen unter einem Dach zu vereinen, und konsequent gemeinsam gegen Bedrohungen für jüdisches Leben einzutreten. 

Identitätspolitik ja, aber bitte reflektiert.

Im Zuge der Debatte um Israel führen die unterschiedlichen Denktraditionen aber zu Konflikten. Die einen sehen in Israel einen Schutzraum für Jüdinnen und Juden, die anderen einen übermächtigen bürgerlichen Staat europäischer Prägung.  

Diese Logik wird zum Beispiel auch durch die kürzlich erschienene Jerusalemer Deklaration zu Antisemitismus (JDA) reproduziert, bei der, wie so oft, hauptsächlich auf die jüdische Identität (mancher) Beteiligter verwiesen wird, um inhaltlicher Kritik zu begegnen. 

Eine Strategie, der sich nun auch die Migrantifa bedient hat, als sie in der Kritik an dem Redebeitrag einzig und allein auf die jüdische Identität der Aktivistin verwies, und durch identitäre Unterstellungen versuchte, die afa zu diffamieren. Jüdische Mitglieder allein können keinen „Koscherstempel” vergeben, davon können auch FPÖ und David Lazar ein Lied singen. Damit unterminiert die Migrantifa ihren eigenen Anspruch als linke, antifaschistische Organisation, indem sie echten Rassismus, der eben in Anschlägen wie dem von Hanau gipfelt, verharmlost und diese Argumentationsstrategie auch für Rechte Tür und Tor öffnet. Und darüber hinaus geht sie davon aus, dass migrantische beziehungsweise jüdische Personen vor inhaltlicher Kritik geschützt werden müssen, weil sie nicht in der Lage seien, sich damit auseinanderzusetzen. Schlussendlich schieben sie als Organisator:innen die Verantwortung für diese Veranstaltung von sich auf die Aktivistin ab. Es wäre aber ihre Aufgabe, Redebeiträge, die zum Anlass passen und ihre Position reflektieren, auszuwählen. Wenn sich vorher aber niemand gefragt hat, welchen Effekt die Redebeiträge haben werden, dann sollte die Migrantifa dazu stehen. Und falls die Rede in Einklang mit ihren Positionen steht, dann müsste sie sich auch der inhaltlichen Kritik stellen, und nicht die Aktivistin mit ihrer Position alleine im Regen stehen lassen. 

Elias Weiss