Wie Amili Targownik über die auf ihren Weg gelegten Steine flog
Ich durfte Amili als eine selbstbestimmte, lebensfrohe junge Frau kennenlernen. Ob beim Feiern-gehen in Tel Aviv, wo wir betrunken nach einer nicht vorhandenen barrierefreien Toilette gesucht haben, oder am nächsten Tag durch den Shuk haCarmel, auf einem steinigen, mit Kartons und Datteln übersäten Boden, geschlendert sind, was sich für Amili wahrscheinlich eher wie eine Achterbahnfahrt anfühlte. Wenn etwas nicht barrierefrei ist, dann fliegt sie einfach drüber.
Sie hat zwar keine Flügel, kann aber fliegen und hat dafür einen Ferrari, auch bekannt als ihr Rollstuhl. Außerdem hat sie immer ihr Handgepäck dabei, wie Amili es nennt. Es ist Zerebralparese.
In der jüdischen Gemeinde als „die Behinderte“, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft als die „jüdische Behinderte“, fand sie schließlich ihren Platz in Israel, wo sie dazugehören und doch einfach Amili sein konnte.
Heute ist Amili 25 Jahre alt, lebt in Tel Aviv, hat einen Bachelor in der Tasche und spricht vier Sprachen. So ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ihre Lehrer:innen in Deutschland für sie prophezeit hatten. Wäre sie ihrem Rat gefolgt und hätte sich dem für sie vorgesehenen Schulsystem unterworfen, würde sie heute möglicherweise in einer Behindertenwerkstatt arbeiten.
In ihrem Buch Hat keine Flügel, kann aber Fliegen erzählt Amili ehrlich, offen und leidenschaftlich ihre Geschichte. Es geht um ihre unterstützende Familie, um Liebe, Hoffnung, aber auch um Schmerz und Kampf. Ein Kampf gegen Stigmatisierung, Diskriminierung und Bevormundung. Ein Kampf für Selbstbestimmung und das Recht sich selbst zu verwirklichen.
In ihrer Reise durch ihre Biografie nimmt sie ihre Leser:innen mit zu elementaren Momenten ihres Lebens und schreibt darüber, wie es ist als Mensch mit Behinderung aufzuwachsen.
Die ersten Jahre ihres Lebens dachte Amili, dass alle Kinder so zur Welt kommen wie sie und mit 18 Jahren die Lizenz zum Gehen erhalten. Was nach einer komischen, kindlichen Illusion klingt, ist eine logische Schlussfolgerung, wenn man in einer exklusiven Gesellschaft aufwächst. Ihre Kindergartengruppe bestand aus Kindern mit CP, alle im Rollstuhl sitzend, möglichst abgeschottet von der Mehrheitsgesellschaft, damit sich diese ja nicht mit Inklusion beschäftigen muss.
Dass dies ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist, wird deutlich als Amili das Abitur absolvieren möchte und eine neue Schule sucht. Das Mantra der Gymnasien: Sie sei auf einer Förderschule besser aufgehoben.
Dieses Argument ergibt vielleicht Sinn, wenn es das Ziel der Inklusion wäre, eine vermeintlich andere Person in eine homogene Gruppe zu integrieren. Doch ist es nicht erstrebenswerter die Individualität jedes Menschen so anzuerkennen, dass eine heterogene Gruppe aus diversen Personen so unterschiedlich ist, dass man gar nicht mehr weiß wer hier überhaupt inkludiert werden sollte?
Amilis Geschichte zeigt, dass wir selber die Autor:innen unserer Geschichte sein können und zeigt, dass der Kampf für mehr Chancengleichheit noch längst nicht überwunden ist.
Sophie Orentlikher