Zwischen Nächstenliebe und Respekt
In Sachen Pandemie sind wir mittlerweile alle zu Expert:innen geworden. Leider waren Pandemien und Epidemien bereits früher keine Seltenheit. Eine von ihnen ist uns besonders bekannt: die Epidemie, die allen 24.000 Schülern des Rabbi Akiwa das Leben kostete. Doch schließlich kam der Tag Lag BaOmer. Jener Tag, an dem die Seuche nach mehreren Wochen aufhörte zu grassieren. An dem die Schüler endlich aufhörten zu sterben. Ein Freudentag. Lag BaOmer war das, was wir heute als „Licht am Ende des Tunnels“ bezeichnen würden.
Doch was war die Ursache für den Tod von 24.000 Schülern? „Weil sie einander nicht mit Respekt behandelt haben“, heißt es dazu im Talmud. Wie kann es sein, dass Gelehrte wie sie, nicht in der Lage waren, einen ordentlichen Umgang miteinander zu pflegen? Zusätzlich waren sie die Schüler des großen Rabbi Akiwa, jenem Rabbi, der tagein tagaus im Klassenzimmer lehrte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Ausgerechnet seine Schüler schafften es nicht, einander mit Respekt zu begegnen? Der wesentliche Unterschied: Es mangelte nicht an Liebe, sondern vielmehr an gegenseitigem Respekt.
Liebe ist im Grunde eine egoistische Eigenschaft. Bei Liebe stehe ich im Mittelpunkt. Indem ich jemanden liebe, erreiche ich meine Vollkommenheit. Die Anwesenheit einer anderen Person tut mir gut. Der Respekt hingegen ist eine gegensätzliche Eigenschaft. Er stellt die andere Person in den Mittelpunkt. Wenn wir einen Menschen respektieren, akzeptieren wir ihn so wie er ist. Wir urteilen nicht über ihn. Wir fordern auch nicht von ihm, dass er sich anpasst. Man kann einen Menschen von ganzem Herzen lieben und ihn dennoch nicht ausreichend respektieren. Liebe ist ein Gefühl, während Respekt sich hauptsächlich in Taten zeigt. Jemanden zu lieben, ist relativ einfach. Jemandem Respekt entgegenzubringen, kostet hingegen Anstrengung.
Die Schüler von Rabbi Akiwa hatten ein großes Problem: Sie ließen keine anderen Meinungen zu. Jeder interpretierte die Lehren des Rabbi Akiwas auf anderem Wege. Sobald einem Schüler aufgefallen war, dass sein Freund die Lehre anders verstanden hatte, bemühte er sich unmittelbar darauf aufzuzeigen, dass sein eigener Weg der richtige war und, dass sein Freund sich irrte. Dies tat er aus reiner Nächstenliebe. Er konnte einfach nicht zulassen, dass sein Freund sich auf den falschen Weg begibt. Doch sie vergaßen das, was bereits im Talmud steht: „So wie die Gesichter aller Menschen nicht gleich sind, sind auch ihre Meinungen nicht gleich“. Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung, auf einen eigenen Zugang, sowie auf seine eigene Sichtweise. Und hier kommt der Respekt ins Spiel. Nur dort, wo auch gegenseitiger Respekt herrscht, wird Liebe auch ewig halten.
Zu Lag BaOmer haben wir die Chance, noch einmal innezuhalten und zu reflektieren, wie es um unsere zwischenmenschlichen Beziehungen steht. Wie oft urteilen wir über Andere? Sind wir in der Lage, respektvoll mit Menschen umzugehen, die eine konträre Meinung vertreten? Wie vorurteilsfrei sind wir wirklich? In naher Zukunft steuern wir hoffentlich auf das sogenannte „Licht am Ende des Tunnels“ zu. So wird es uns auch gelingen, das Leben anderer Menschen – sowie unser eigenes – zu erhellen.
Frumi Alperovits