Corona-Leugner:innen, Nazis und Esoteriker:innen verbreiten unter dem Deckmantel der Maßnahmenkritik auf Wiens Straßen Verschwörungstheorien, die stark von antisemitischen Narrativen durchzogen sind. Für Jüdinnen und Juden bedeuten diese Demonstrationen eine reale Bedrohung.
Oftmals wird das Jahresende genutzt, um persönliche Höhe- und Tiefpunkte Revue passieren zu lassen. Nun ist es allerdings Juni, Neujahr liegt also lange zurück und damit eigentlich auch der vermeintlich passendste Zeitpunkt für einen Jahresrückblick. Doch in diesem speziellen Jahr kann der Corona-Joker gespielt werden; der „Wir leben gerade in einer Pandemie und die hält sich nicht an Kalenderjahre”-Joker. Und somit wird auch der Juni ein passender Zeitpunkt für einen Rückblick auf das Pandemie-Jahr.
Für mehr als ein Jahr befand sich Österreich, mit Ausnahme der Sommermonate, in Lockdowns, um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen. Laut Studien des Austrian Corona Panel der Universität Wien hielten sich weite Teile der in Österreich lebenden Menschen “gut” bis “recht gut” an die von der Regierung vorgeschriebenen, zeitweise sehr restriktiven Beschränkungen. Die Studien des Panels berichten ebenfalls, dass die Einhaltung der Maßnahmen weniger durch die Angst vor einer eigenen Infektion getrieben war, sondern eher durch die Einschätzung der Gefahr des Virus für andere sowie durch die Sorge vor einer Überlastung des Gesundheitssystems.
Doch nicht alle Österreicher:innen teilten diese Sorgen: Bereits im Frühling 2020 bildete sich eine Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Neben Esoteriker:innen, selbsternannten kritischen Bürger:innen und „Querdenker:innen“ fanden sich öfters auch rechtsextreme Gruppen während des Lockdown auf großen Demonstrationen – die Behörden sprachen von bis zu 5000 Teilnehmer:innen – zusammen. Diesen Großdemonstrationen fehlten ein Hygienekonzept sowie Abstandsregeln und Masken, und sie wurden zum Teil im Vorhinein durch die Exekutive untersagt. Abgesehen davon, dass die Demonstrant:innen die Hygieneregeln komplett missachteten, wurde überdies in den letzten Monaten mehrfach über die Präsenz von Neonazis und rechtsextremen Burschenschaftern bei diesen Demonstrationen berichtet.
Unter dem Deckmantel der Maßnahmenkritik
Obwohl sich diese Demonstrationen in der Theorie gegen die Maßnahmen der Regierung richteten, kritisierten viele Teilnehmer:innen nicht nur die konkreten österreichischen Corona-Maßnahmen wie Maskenpflicht, Testpflicht oder Impfen. Diese Veranstaltungen wurden zum Teil auch genutzt, um Ressentiments zu äußern, die auf antisemitischen Verschwörungstheorien basieren. Akteur:innen verharmlosen dabei die Gefahr, die von Corona ausgeht, sie sprechen von der Einschränkung der Freiheiten durch eine vermeintliche „Corona-Diktatur“ und behaupten, dass die Pandemie von der Elite dieser Welt geplant wurde, um die Gesellschaft noch stärker kontrollieren zu können. Viele dieser Verschwörungstheorien verbindet massives antisemitisches Gedankengut.
Die von den Akteur:innen geforderte Freiheit ist dabei also eine unsolidarische Freiheit des Individuums in einer Gesellschaft, in der alle ohne Rücksicht auf andere sagen und machen dürfen was sie wollen.
Paradox an dieser Bewegung ist der Umgang mit historischen Narrativen: Vor allem die Projektion rechtsextremer Ideologien auf die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus sticht hervor. Konkret zeigt sich diese Projektion, neben den bereits genannten antisemitischen Narrativen, in den gezogenen historischen Vergleichen. Bei zahlreichen Demonstrationen fand in den unterschiedlichsten Formen Holocaust-Verharmlosung und -Leugnung statt. Beispielsweise stilisierten sich Teilnehmer:innen als Opfer der imaginierten „Corona-Diktatur“ und trugen gelbe Sterne, wie einst Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Außerdem inszenierten sich zahlreiche Demonstrant:innen als Widerstandskämpfer:innen und verglichen sich mit Personen, die während des Nationalsozialismus gegen Faschismus und Krieg Widerstand leisteten.
Obwohl einige mediale Berichte hervorhoben, dass es sich bei den Demonstrant:innen um eine kleine Zahl an ideologisch verirrten Personen oder Randgruppen handelte, zeichnen Umfragewerte des Meinungsforschungsinstituts Integral ein anderes Bild: Laut der Erhebung stehen etwa ein Drittel der Österreicher:innen diesen Demonstrationen grundsätzlich positiv gegenüber. Vor allem Männer, Jüngere und FPÖ-Wähler:innen haben für die Straßenaktionen ohne Maske und Abstand sowie für die dort verbreiteten Verschwörungstheorien viel übrig. Das Sympathisieren der FPÖ-Wähler:innen mit der Bewegung ist dabei wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass sich die Partei, in deren Riegen sich Neonazis und Burschenschafter befinden, seit Anfang der Pandemie mit den Demonstrant:innen solidarisiert.
Fehlender Schutz der Polizei
Die Kombination aus unreflektierter Maßnahmenkritik, problematischem Geschichtsrevisionismus, Antisemitismus und rechter Ideologie hat bereits zu Ausschreitungen geführt. Vermehrt kam es zu Angriffen gegen Jüdinnen und Juden, Journalist:innen und antifaschistische Gegendemonstrant:innen. Darüber hinaus wurden im Zuge der Proteste mehrfach antisemitische Nachrichten in den öffentlichen Raum geschmiert. Seit März warnte die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) ihre Mitglieder davor, an Tagen, an denen die Plattform mobilisierte, das Haus zu verlassen oder die Synagoge zu besuchen. Diese Warnungen wurden aufgrund vergangener Angriffe ausgesprochen, jedoch auch, da sich die jüdische Gemeinde offenbar nicht auf ausreichend Schutz durch die Exekutive verlassen konnte. Die letzten Monate verdeutlichten klar die Gunst der Polizei gegenüber jenen Menschen, die unter dem Deckmantel der „Maßnahmenkritik“ durch die Straßen zogen und ihre antisemitischen und rassistischen Ideologien verbreiteten. Auch wenn derartige Versammlungen auf den Straßen durch Lockdown-Lockerungen in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr stattfinden, existiert Österreichs Antisemitismus- und Rassismusproblem unverändert in viel zu vielen Köpfen.
Adina Frey