Rebecca Blady ist die erste orthodoxe Rabbinerin Deutschlands und leitet das gefragte Projekt “Base Berlin” in Berlin-Kreuzberg.
NOODNIK: Du kommst aus den USA, wo es eine Vielzahl weiblicher jüdisch-religiöser Persönlichkeiten, wie Rabbinerinnen und Kantorinnen gibt. Was sind Unterschiede zu Deutschland und welche Tendenzen gibt es diesbezüglich?
Rebecca Blady: Eine meiner frühesten Erinnerungen in Deutschland war, als ich mit Student:innen in Berlin arbeitete. Eine Studentin, die sehr involviert in die jüdische Jugendarbeit war, kam zu mir und fragte mich, warum in den Ferienlagern immer nur Männer religiöse Rituale anführten und ob es möglich sei, dass eine Frau das macht. Ja, es ist möglich.
Will man alle Strömungen einbinden, tendiert man dazu, religiöse Rituale auf die traditionelle Weise des orthodoxen Judentums zu gestalten. Doch das jüdische Gesetz gibt Möglichkeiten. Also begann ich mit jener Studentin zu lernen, wie man welche Rituale anführt und stellte fest, dass es in Europa nicht die gleichen Bildungsangebote wie in den USA oder in Israel gibt, wo sich Frauen dieses hohe Verständnis von Torah, Talmud und jüdischer Praxis aneignen können. Das ist eine Sache, die es auf jeden Fall zu verbessern gilt. Ich habe große Träume, dass jüdische Frauen hier mit der Zeit diese Möglichkeiten auszuschöpfen lernen und Führungspersönlichkeiten nicht nur in der Verwaltungsebene, sondern auch im religiösen Bereich werden können. Es ist schließlich auch unsere Religion.
N: Wie kamst du dazu, Rabbinerin zu werden?
RB: Ich wuchs in einer modern-orthodoxen jüdischen Gemeinde auf. Mit 16 war ich an Shavuot in der Synagoge und die Männer tanzten mit der Thora, wie an diesem Feiertag üblich, sangen und hatten Spaß. Wir Frauen saßen auf der Seite und langweilten uns. Es war nicht üblich, dass wir mitfeierten. Auf einmal kam mein Vater, der immer schon ein Troublemaker war, und sagte, es gebe keinen Grund wieso Frauen nicht auch mit der Torahrolle tanzen dürften, und drückte uns eine in die Hand. Es war ein tolles Erlebnis. Die Frauen begannen zu tanzen, zu singen und sich zu freuen. Plötzlich kam jemand von den Männern, nahm uns die Torahrolle weg, und sagte “So machen wir das hier nicht.” Alle waren natürlich sehr enttäuscht.
Ich wurde Mitglied einer orthodoxen feministischen Allianz in den USA, verlor jedoch das Interesse an der Gemeinde, als ich anfing Politik zu studieren. Ich wollte neue, nicht-jüdische Leute und die Welt kennenlernen. Mein Ziel war der Journalismus.
Einige Jahre nachdem ich bereits in der Filmproduktion gearbeitet hatte, holte mich die Begeisterung eine jüdisch-orthodoxe feministische Pionierin zu sein wieder ein. Also beschloss ich einen Karrierewechsel. Ich wollte Rabbinerin werden, um nicht mehr über Menschen zu berichten, sondern mit Menschen zu arbeiten und meine Begeisterung über Judentum und Gott mit ihnen teilen zu können. So kam ich an ein Rabbinerinnenseminar in New York, wo ich vier Jahre lang studierte. Nun leite ich gemeinsam mit meinem Ehemann das Projekt “Base Berlin”, in dem wir jungen Menschen jüdische Bildung und Führungskompetenzen für ihre Arbeit in jüdischen Gemeinden vermitteln.
N: Wie reagieren die Menschen auf eine weibliche Rabbinerin in Deutschland?
RB: Menschen versuchen eine:n in Schubladen zu stecken. Das klappt bei mir nicht und das sorgt bei Vielen für Verwirrung. Aber es ist schön, denn Menschen sehen, was möglich ist und was es eigentlich bedeutet, Rabbinerin zu sein. Ich möchte viele Variationen von Judentum fördern und vor allem jungen Menschen eine eigene Perspektive darauf geben. Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht einmal mit mir sprechen würden, weil das gegen ihre religiösen Vorstellungen geht. Aber auch das ist in Ordnung für mich. Veränderungen ängstigen Menschen, vor allem wenn eine Tradition seit Jahrtausenden besteht. Ich freue mich, dass ich mit meiner Arbeit etwas verändern kann.
N: Was würdest du bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter in jüdischen Gemeinden gerne verändern?
RB: Jede Gemeinde ist anders. Ich kann nicht für alle sprechen, aber in bestimmten Bereichen gehört die Geschlechtertrennung jedenfalls aufgebrochen. Beispielsweise verdient Jede:r eine hochqualitative religiöse Bildung. Talmudschulen sollte es auch für Frauen geben. Zudem ist es jedenfalls möglich, auch in orthodoxen Gemeinden Führungspositionen für Frauen zu öffnen. Ob in der Gemeindeführung oder in Projekten. Wenn diese Barrieren erstmal gebrochen wurden und die Menschen sehen, wie positiv sich das auf die Gemeinde auswirkt, ist auch im religiösen Bereich vieles möglich. Auch hier ist Bildung ein Key-Faktor. Das Ziel sollte sein, die nötigen Strukturen aufzubauen, in denen Frauen als Führungspersönlichkeiten respektiert werden.
N: Gibt es einen spezifisch jüdischen Sexismus? Wie drückt er sich aus?
RB: Auf jeden Fall. Das ganze Prinzip, die Tradition zu bewahren, wie sie seit tausenden von Jahren besteht, enthält schon sehr viel Sexismus. Denn wie schon vorher erwähnt, entstand diese ohne Mitsprache von Frauen und sieht sie in vielen Bereichen nicht vor. Dieser Sexismus sitzt so fest, dass sogar Frauen diesen übernommen haben.
Ein weiterer oft vernachlässigter Aspekt ist die jüdische Diskussionskultur, die von Scharfsinnigkeit und tiefem Eintauchen in die Materie einerseits, und teils sehr energischem Streit andererseits geprägt ist. Als Frau ist es oft schwer, in einem Diskurs mitzuhalten. Bei einer derart aggressiven Diskussionsweise werden Frauen oft überhört oder kommen gar nicht zu Wort. Man wird als Frau belächelt, sobald man etwas Falsches sagt oder Fragen stellt.
N: Was sollte beim Thema Gleichstellung längst selbstverständlich sein, ist es aber nicht?
RB: Es braucht mehr Frauen in der Politik. Das ist unumgänglich wenn wir ein funktionierendes Repräsentationssystem zum Ziel haben. Dabei müssen Hindernisse in der Gesprächskultur beseitigt werden. Viele Frauen denken noch immer, sie seien nicht in der Lage mit schweren politischen Fragen, oder scharfer Kritik umzugehen.
Des Weiteren muss es mehr Transparenz bei Gehältern geben. Es existieren bereits Projekte, wo Männer ihre Gehälter veröffentlichen, um eine leichtere Vergleichbarkeit zu schaffen. Wenn mehr Männer dies täten, würde das in vielen Fällen helfen, Ungleichheiten zu beseitigen. Des Weiteren müssen sich Frauen häufig maskulin verhalten, um ernst genommen zu werden. Allein, dass das noch immer nötig ist, ist ein Problem. Jedoch werden diese Frauen häufig von anderen Frauen dafür geächtet. Dass Frauen einander gegenseitig aufhetzen ist nicht zielführend. Wir müssen Seite an Seite für Gleichstellung kämpfen.
Interview: Illya babkin