Sirenen heulen auf. Hektisch laufen wir vom Schlafzimmer ins Stiegenhaus. Einen Schutzbunker gibt es nicht. Plötzlich eine Druckwelle, ein lauter Knall. Der Iron Dome fängt die Rakete der Hamas ab.
Sommerurlaub 2014, es hagelt Raketen im Nahen Osten.
Ich bin 14 und über den Sommer zu Besuch bei meinen Großeltern im Süden Israels. Sowie jeden Sommer davor. Doch dieser Besuch ist anders, ich werde ihn niemals vergessen.
Es ist Mai 2021, ich bin 20 und in Wien, meiner Geburtsstadt. Von einem Tag auf den anderen explodieren die Sozialen Medien. Der Nahostkonflikt ist plötzlich in aller Munde. Jede:r hat eine Meinung dazu. Einen Standpunkt. Alle sind wieder Expert:innen geworden. Jede:r weiß genau, was dort abgeht.
Das Wissen entnimmt man einem Instagram-Slide. Ein jahrzehntelang andauernder Krieg zusammengefasst auf ein bis zehn Bilder. Da kann doch was nicht stimmen.
Ein lauter Knall.
Tagelang meiden ich und meine jüdischen Freund:innen Instagram, Twitter und Facebook. Menschen, von denen man dachte, dass sie Genoss:innen seien, Verbündete, sympathisieren plötzlich mit BDS. Ich mache eine Bekannte darauf aufmerksam, dass BDS eine anerkannt antisemitische Organisation ist. Das wusste sie nicht. Doch teilte sie unbedacht einen Post von ihnen, als Zeichen vermeintlicher Solidarität. Ich entfolgte ihr, aus Selbstschutz. Ob sie weiterhin antisemitische Posts teilt? Ich weiß es nicht.
Anfeindungen, Morddrohungen, Aufrufe zum Tod aller Jüdinnen und Juden und zur Zerstörung des Staates Israels. Das ist wieder unsere Realität geworden. Wieso wird man als europäische Jüdinnen und Juden
angegriffen? Wir werden aufgefordert, Stellung dazu zu beziehen, aber wir sind nicht die israelische Regierung und auch nicht ihre Sprecher:innen.
Nein. Keinen Bock. Lasst mich damit in Ruhe. Ich werde keine Projektionsfläche für eure “Nahost-Expertise” sein. Ich werde mich nicht zum Konflikt äußern.
Ich kann zwar nicht für alle Jüdinnen und Juden sprechen. Doch ich glaube zu wissen, dass es allen in dieser Woche der Explosionen mental schlecht geht. Richtig dreckig. Tagelang werden wir zerdrückt. Der Judenhass dieser Welt holt uns auf einmal ein.
Ich habe mich schon lange nicht mehr so alleine und einsam gefühlt. Niemand schreit auf. Alle sind still. Diese Stille ist ohrenbetäubend laut.
Zusammen sind wir stärker. Als JöH organisieren wir am 15. Mai eine Kundgebung gegen jede Form von Antisemitismus.
An diesem Tag habe ich Angst um mein Leben.
Nein, das ist keine Übertreibung. Mit zitternden Händen und pochenden Herzen beobachten wir unsere Umgebung. Paranoid achten wir auf auffälliges Verhalten, auf liegengelassene Rucksäcke, auf die Sicherheit der Teilnehmer:innen.
„Schiebts euch den Holocaust in den Arsch“ ruft ein Teilnehmer der pro-palästinensischen Gegendemo. Applaus und Zustimmung. Mitten in Wien.
Jeden Tag führe ich besorgte Telefonate mit meiner Familie. In der Arbeit einen Heulkrampf. Im Kopf ständig woanders. Ich komme zu dem Punkt, an dem ich den Wunsch äußere, keine Jüdin mehr sein zu wollen. Den Wunsch, diesen Hass und diese Angst nicht erleben zu müssen. Den Wunsch, davon befreit zu sein.
Den Wunsch nach Frieden.
Victoria Borochov