Jüdisch und Schwarz

Der Versuch einer Rekonstruktion meiner Identität

Als meine Freundin mich fragte, ob ich einen Artikel über das Leben als Schwarze Jüdin schreiben möchte, habe ich mich zunächst sehr gefreut. Mir wurde die Chance und die Stimme gegeben über meine Perspektive und mein Erleben zu schreiben. Ich war gezwungen mich mit meiner Lebensrealität auseinanderzusetzen, welche mich unterbewusst tagtäglich begleitet.

Während des Schreibprozesses schwirrten mir lauter Fragen durch den Kopf: Wer bin ich? Bin ich eine jüdische Schwarze oder eine Schwarze Jüdin? Ist das überhaupt wichtig? Wie sieht meine Identität aus? Wo fühle ich mich zugehörig?

same same but different

Aber fangen wir mal ganz von vorne an. Erst mal etwas zu meiner Vorgeschichte. Meine Mutter ist eine jüdische Weiße und mein Vater ein christlicher Schwarzer. Dementsprechend bin ich sehr multikulturell aufgewachsen. Erzogen wurde ich jedoch hauptsächlich jüdisch, sprich ich besuchte einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische Grundschule, fuhr auf jüdische Ferienlager, und ging von Zeit zu Zeit in die Synagoge. Relativ schnell merkte ich, dass ich anders war als andere Jüdinnen und Juden in meinem Umfeld. Ich unterschied mich auf eine ganz offensichtliche Art und Weise. Meine Hautfarbe. Während meiner Schulzeit hatte ich das Bedürfnis dazuzugehören, es war schwierig meinen Platz inmitten einer relativ homogenen russischsprachigen jüdischen Gemeinschaft zu finden. Lasst mich eins klarstellen, meine jüdischen Freundinnen und Freunde gaben mir nie das Gefühl nicht genug oder anders zu sein, mit ein paar Ausnahmen fühlte ich mich meistens akzeptiert. Und trotzdem war da latent ein undefinierbares Gefühl des Anders-Seins. 

Wer bestimmt, wer ich bin?

Die Frage nach der Identität ist so schwierig, ich frage mich, ob ich jemals eine klare Antwort darauf haben werde.

Angehörige zweier Minderheiten zu sein, wirft Konflikte auf. Diese tragen sich nicht nur in meiner Identität aus, sondern auch im zwischenmenschlichen Kontakt in Form von Vorurteilen und Diskriminierung.

Ich lebte bis heute die multiplen Facetten meiner Identität isoliert voneinander aus. Ich wusste nicht, wie man das alles miteinander vereint, da ich keine:n hatte, mit dem:der ich mich darüber austauschen konnte. Weder von Schwarzen Menschen, noch von der jüdischen Gemeinde fühlte ich mich vollständig repräsentiert. 

Für die Mehrheitsgesellschaft bin ich immer die Schwarze. Meine jüdische Identität ist an meinem Äußeren nicht zu erkennen, dementsprechend ist das etwas, was ich entschieden zu erkennen geben kann oder eben nicht. Wenn Letzteres eintritt, dann aus Selbstschutz. Das bedeutet, fühle ich mich in einem nicht-jüdischen Kontext nicht sicher oder akzeptiert, kann ich das Jüdisch sein schnell hinter mich schieben. In die Wiege gelegt wurde mir dieser Grundsatz durch die ständige Präsenz der Security vor jüdischen Einrichtungen in Deutschland.

Mit der Hautfarbe ist das natürlich nicht so einfach, denn diese ist meist das Erste, was die Menschen sehen, wenn sie mich anschauen. Deshalb dachte ich irgendwann, dass das Schwarze das Jüdische vielleicht überwiegt und ich, wenn ich wählen müsste, mich für die Schwarze Identität entscheiden würde. Der Gedanke machte mich ehrlich gesagt sehr traurig und ich frage mich, ob dieser Druck eine Entscheidung zu treffen selbst- oder fremdbestimmt war.

Zwischen zwei Welten

Für den Artikel habe ich mich mit anderen Schwarzen Jüdinnen und Juden ausgetauscht und festgestellt, dass wir ganz unterschiedliche Erfahrungen machen, je nachdem wo in der Welt wir uns befinden. Gleichzeitig habe ich durch den Dialog verstanden, dass ich meine Identität nicht kategorisieren muss und es in Ordnung ist zwischen Welten zu schweben und in verschiedenen Kontexten auch unterschiedliche Rollen einzunehmen, jedoch ohne die andere Seite abzulegen. 

Das birgt in meinen Augen eine große Verantwortung. Einerseits stehe ich in jedem sozialen Raum als Repräsentantin einer Minderheit, nirgendwo gehöre ich zur Mehrheit dazu. Und wie wir das kennen, entstehen und reproduzieren sich Stereotype unter anderem durch Generalisierungen eines Individuums auf eine Bevölkerungsgruppe. Ich unterstütze das nicht, mir ist jedoch bewusst, dass es so ist. Aber es verleitet mich dazu noch bewusster zu handeln, denn ich weiß, dass ich in jedem Kontext hervorsteche.

Auf der anderen Seite prägt der Punkt des Anders-Seins meinen Sinn für Gerechtigkeit. Mich für andere Minderheiten, Solidarität, Respekt und Gleichberechtigung einzusetzen und gegen Diskriminierung und Hass aufzustehen, hat einen hohen Stellenwert für mich, denn meine jüdischen und schwarzen Vorfahr:innen wissen, was es bedeutet marginalisiert zu werden. Diese Geschichten zeichnen meine Identität und mich.

Fazit meiner Identitätsanalyse – for now

Um auf den Anfang zurückzukommen. Mir ist noch mal bewusst geworden, dass ich trotz der Hürden, die mit der Vielschichtigkeit meiner Identität zusammenhängen sehr gesegnet bin. 

Ich möchte alle schönen Aspekte meiner Einflüsse vereinen und Liebe, Verständnis und Toleranz vermitteln. Ich bin Schwarz und Jüdisch gleichermaßen und das Erleben dieses Pluralismus macht mich zu einer besseren Version von mir selbst.

Um diese Entwicklung zu unterstützen, wünsche ich mir einen intersektionalen Raum der geschaffen wird für Individuen, welche mehreren Minderheitsgruppierungen zugehören und die Überschneidung und Gleichzeitigkeit multipler Identitätsschichten anerkennt, in meinem Fall meiner ethnischen und religiösen Zugehörigkeit. 

Aber nicht nur das: Meiner Meinung nach brauchen jüdische Gemeinden ein Update, müssen offener werden. Jüdische Räume sind nicht frei von Rassismus, Sexismus oder Homophobie. 

Der gemeinsame Kern, das Jüdisch Sein, sollte gefeiert und Jewish Diversity muss als Potenzial für eine pluralistische Gesellschaft ausgeschöpft werden.

Daphne Lockhart